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Unkraut-Kollektiv entert die Spree
Seit dem 1. Mai übt die Crew eines Bootes Marke Eigenbau Solidarität auf dem Wasser
»Ich war halt der mit dem Bootsführerschein.« Claus Friedrichs hat einen runden Hut auf. Ziemlich entspannt sitzt er auf einem Gartenstuhl, dabei ist die Situation delikat. Eine Hand am Steuer, die andere am Gashebel, schiebt der 50-PS-Motor das Boot vorsichtig unter der Landwehrkanal-Brücke hindurch Richtung Spree. Es ist Zentimeterarbeit. Keiner vom Bootsbau-Team hat mit den niedrigen Brücken der Hauptstadt gerechnet. Von einem anderen Schiff in der Schleuse werden Passagiere herübergerufen. Sie beschweren das fast zwölf Meter lange Schiff um die fehlende Fingerbreite.
Der Sommer ist vorbei. Die Fensterländen des Floßes klappern im Takt der Wellen des Liegeplatzes an der Rummelsburger Bucht in Lichtenberg. Seit der Jungfernfahrt der Unkraut am 1. Mai dieses Jahres ist die Crew fest zusammengewachsen.
In einer Souterrain-Werkstatt, wenige Schritte vom Hermannplatz entfernt, wird die Abschlussparty der ersten Wassersaison geplant: »Unkraut Kollektiv goes Winterschlaf«. An diesem Wochenende wird gefeiert. Festgemacht wird am Dreiländereck von Kreuzberg, Friedrichshain und Treptow an der Landwehrkanalmündung. Eingeladen sind Nachbarn, Musiker, Künstler, Spaziergänger, Kinder.
»Wir sind eine Organisation, die den öffentlichen Raum über soziale und kulturelle Events neu erschließen will«, erzählt Nico Marroquin, »besonders für diejenigen, die keine Möglichkeiten haben, das Wasser von Booten aus zu genießen«. Warum Unkraut? Wie unerwünschte Pflanzen schlagen sich viele im Kollektiv durchs Leben, arbeiten als Freelancer, Handwerker, kommen gerade so über die Runden. Haben es als Ausländer, Kleinverdiener, als Frauen schwer an gute Jobs und Wohnungen zu kommen. Müssen, selbst bei der Suche nach einem Werftplatz, das Gift des Alltagsrassismus ertragen.
Marroquin kommt aus Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Seit zehn Jahren lebt der Vater einer kleinen Tochter im Kindergartenalter in Berlin. Juan Tapia, einer der Initiatoren des Bootsbaus, auch Vater, auch Latino, aus Chile, arbeitete von klein auf in der einfachen Autowerkstatt der Familie mit. »Mit vier Freunden begannen wir das Boot zu bauen, auf dem Weg dahin merkten wir, dass die Sache viel zu groß geworden war«, erinnert er sich an seinen »Traum«. Erfahrung, wie ein Boot zu bauen sei, hatte niemand. Der Prozess war eine Ausbildung Marke Eigenbau. Sie lernten Modelle aus Papier zu bauen, Pläne zu zeichnen, zu konstruieren, die Verarbeitung von recycelten Metallen und Hölzern, Elektrik, Solartechnik, Regeln der Binnenschifffahrt, Buchhaltung.
Um die Lasten zu teilen, machten die Vier das private Vorhaben schnell für Freunde und Bekannte zugänglich, die sich mit Geld, Arbeitskraft und Wissen am Bootsprojekt beteiligen. »Schließlich haben wir beschlossen, uns auch der Stadt zu öffnen«, sagt Tapia, der seit fünf Jahren in Berlin wohnt, den gemeinnützigen, politischen Anspruch des Kollektivs. Mitte 2017 wird ein Verein gegründet, das Kollektiv hat eine amtliche Geburtsurkunde.
»Die Unkraut ist ein Raum auf dem Wasser, in dem ich mich frei fühle«, sagt Julia Brennauer, Studentin der Stadtplanung. Auch sie weiß, wie umkämpft die Räume der Stadt sind, Privatgewinn immer mehr vor Allgemeinheit geht. Ein »kunterbunter Ort« sei das Boot, »wir tauschen Ideen aus, machen Yoga, singen, kochen, spielen, feiern, und vergessen kurz den Alltag«. Seit der Jungfernfahrt sticht die Unkraut fast jedes Wochenende in See: Cumbia-Musiker beschallen die Oberbaumbrücke von unten, das Künstlerinnen-Kollektiv »Die Goldene Diskofaust« macht das Schiff zur Lesebühne, ein alternatives Filmfestival bedankt sich bei seinen ehrenamtlichen Mitarbeitern mit einer Bootsfahrt, man kreuzt bei Anti-Kohlekraft-Demos auf. Ende Oktober werden dutzende Kinder eines Geflüchtetenheims Halloween auf dem Wasser feiern, gemeinsam mit den Kollektiv-Kindern. Auch die Bewohner des Seniorenheims gleich neben dem Liegeplatz der Unkraut, bekommen eine Gratis-Spreetour. Immer wieder werden neue Menschen auf das Boot eingeladen.
»In fünf Jahren sehe ich das Unkraut-Kollektiv als große, starke Pflanze«, ist Stephanie Fenner überzeugt. Ob für Versicherungen, Liegeplatz, Reparaturen oder Treibstoff, alles läuft bisher über die Abgabe von Getränken gegen Spenden während der Spreefahrten. Viel zu wenig Mittel, um das Boot als Plattform für neue Ideen zu etablieren. Im Winterschlaf wird das Floß nicht fahren. Doch um geplante Spreetouren zu »Wem gehören die Ufer«, Umweltbildungskurse für Kinder und Jugendliche und Tagesausflüge für Leute mit wenig Geld zu ermöglichen, sollen öffentliche Fördertöpfe angezapft werden. Damit das Unkraut nicht vergeht.
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