Wacht auf und riecht das Östrogen!

Das Pornfilmfestival zeigt ab heute Filme mit nackten Menschen, darunter auch Komödien und Dokumentarfilme

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir freuen uns, die letzte Episode der Serie NEUROSEX PORNOIA zu präsentieren, ein queeres und transfeministisches Science-Fiction-Projekt, das eine neuroanarchoqueere Szene und deren Verwendung von Gehirnimplantaten zwecks Lust- und Sexoptimierung darstellt.« Sind Sie noch da, liebe Leserin und lieber Leser? Gut.

Das Berliner Pornfilmfestival zeigt ab heute neue pornografische und nichtpornografische Filme, die sich im weitesten Sinn unvoreingenommen mit der menschlichen Sexualität und deren Spielarten beschäftigen. Das Selbstverständnis der Veranstalterinnen und Veranstalter des traditionell alljährlich in Kreuzberg stattfindenden und sich als international verstehenden Filmfestivals ist dabei ein hochgradig fortschrittliches und im besten Sinne libertäres: Man wolle, wie es im Programmheft des diesjährigen Festivals heißt, »gewohnte Vorstellungen von Moral, Spießigkeit, Sexualität, Geschlechternormen oder Schamgrenzen weit hinter sich lassen und grundsätzlich in Frage stellen«.

Demzufolge gibt es auch dieses Mal Diversestes zum Thema zu sehen, vom skurrilen Indie-Porno über Dokumentationen, in denen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter von ihren Erfahrungen erzählen, bis hin zu Trash-Produktionen wie etwa »ABCs Of Superheroes«, einer »vor absolut keiner Geschmacklosigkeit zurückschreckenden Komödie, in der in alphabetischer Reihenfolge 26 verschiedene Superhelden und -heldinnen vorgestellt werden. In Mini-Episoden lernen wir Helden wie die sexgewaltige Fist-Fuck-Force oder das einmalige Menstrugirl kennen, das der Ungerechtigkeit der Welt mit blutigen Tampons zu Leibe rückt«. Zu den Mitwirkenden dieses gewiss bahnbrechenden Werks gehören passenderweise der legendäre Uwe Boll, der nicht ohne Grund als »schlechtester Regisseur der Welt« gilt, und der Horror- und Trashfilm-Experte Jörg Buttgereit, der einst mit Filmen wie »Nekromantik« auf sich aufmerksam machte.

In der spanischen Pornoproduktion »Ages Of Sex« wiederum werden »vier Generationen von Frauen und ihre Sexualität - mit 30, mit 40, mit 50 und mit 60 Jahren - inszeniert und in expliziten Spielszenen lustvoll in Szene gesetzt«.

Des Weiteren gibt es beispielsweise ein Biopic über den Zeichner Tom of Finland, dessen männliche Pin-Ups ihn in der Schwulenszene zum Großkünstler machten. Erstmals stelle diese Filmbiografie den »einsamen und einfachen Mann« vor, der bislang »hinter den Zeichnungen der muskulösen Männer mit den gigantischen Schwänzen« zu verschwinden drohte, so das Programmheft. Oder einen Dokumentarfilm über die ehemalige Pornodarstellerin und Politikerin Ilona Staller, die als »Cicciolina« internationale Popularität erlangte (»La Cicciolina«).

Auch der kanadische Filmemacher und Fotograf Bruce La Bruce, mit seinen Filmen schon eine Art Dauergast des Festivals, hat eine neue Produktion vorzuweisen: In »The Misandrists« steht eine Art klösterliches Internat für heranwachsende Mädchen im Mittelpunkt, die in koketten lila Schuluniformen stecken und in besagtem eigenartigen Erziehungsinstitut von einer Hand voll Nonnen mit strenger Hand zu radikalem Queerfeminismus und lesbischem Separatismus erzogen werden (»Freedom for female Pornography!«). Der Kontakt zu Männern, die als hundsgemeine Vertreter des verabscheuungswürdigen Patriarchats gelten, ist ihnen untersagt. Dennoch verstecken zwei der Novizinnen, »Isolde« und »Hilde«, einen offenbar auf der Flucht befindlichen jungen Mann im Keller des Hauses.

La Bruces betont langsame und mitunter betuliche Inszenierungsweise und seine Neigung, die hölzern vorgetragenen Dialoge zuweilen zu kleinen theoretischen Exkursen ausarten zu lassen, sind gewiss nicht jedermanns Sache, doch für seine bewusste Stilisierung des Geschehens und das Hervorheben des Artifiziellen ist der Regisseur ja bekannt. Immerhin gibt es hie und da Dialoge, die man gut als Slogans verwenden kann: »We must tell the World to wake up and smell the Estrogen!«

Außerdem sehr sehenswert ist der japanische Dokumentarfilm »Boys For Sale«, in dem junge Männer vor der Kamera freimütig von ihrem Arbeitsalltag als Escort-Boys und Sexarbeiter erzählen: Obwohl die meisten von ihnen sich als heterosexuell begreifen, verkaufen sie dennoch sexuelle Dienstleistungen an schwule Männer, weil sie auf den Verdienst, der sich bei den meisten auf kaum mehr als monatlich 1000 bis 1200 Dollar beläuft, angewiesen sind. In der Regel, so stellt sich heraus, arbeiten sie für ausbeuterische Arbeitgeber unter unwürdigen Bedingungen und sind in kleinen, schmutzigen Schlafräumen zusammengepfercht. »Wir sind Produkte«, sagt etwa einer der Jünglinge. Den meisten von ihnen, so wird rasch klar, ist jede Möglichkeit, sich bei Bedarf gegen Misshandlungen oder die Vergewaltigung durch einen Freier zu wehren, verschlossen. In Japan ist der Sex zwischen Männern, erst recht der käufliche, extrem stark tabuisiert. Hinzu kommt die Unaufgeklärtheit und das erschreckende Unwissen vieler junger männlicher Sexarbeiter in Fragen gesundheitsgefährdender Sexpraktiken und der Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten.

12. Pornfilmfestival Berlin, 24. bis 29.10., Kino Moviemento, Kreuzberg. Programm unter: www.pornfilmfestivalberlin.de

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