Tanz der Tradition

Australiens berühmteste Aborigines-Company »Bangarra Dance Theatre« begeistert im Haus der Berliner Festspiele

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Brisbane, 2002. Kurz vor dem Gastspiel des Bangarra Dance Theatre in der Hauptstadt des australischen Bundesstaats Queensland hat sich Startänzer Russell Page aus dem Leben verabschiedet. Tiefe Freude sei zwar in seinem Tanz gewesen, nicht aber in seinem Herzen, las man. Dass auch der Konflikt zwischen seiner indigenen Herkunft und einer modernen Lebensweise eine Rolle gespielt haben könnte, wurde zumindest gemutmaßt. »Walkabout«, das damalige Programm, wurde dennoch in Brisbane gezeigt, mit Widmung an den tragisch Verstorbenen. Ein bewegender, lange nachwirkender Abend in sehr gespannter Atmosphäre.

Anderthalb Jahrzehnte später die Wiederbegegnung mit Australiens einziger Company, die sich dem rund 40 000 Jahre zählenden Erbe der Aborigines widmet und in zeitgenössischem Tanz widerspiegelt. Seit 1991 leitet Stephen Page, einer von Russells älteren Brüdern, das 1989 gegründete Ensemble. Immer wieder greifen seine und die von Gästen beigesteuerten Choreografien das schwere Schicksal von Australiens indigenen Einwohnern auf: seit Urzeiten Eigner dieses Landes und dennoch Vertriebene, Entwurzelte zu sein. »OUR land people stories« erzählt im Haus der Berliner Festspiele mit drei gleichnishaften Neukreationen vom kniffligen Spagat zwischen Tradition und Gegenwart.

In »Macq« fahndet Jasmin Sheppard dem wahren Lachlan Macquarie nach, als Gouverneur von New South Wales lange um Ausgleich zwischen Ureinwohnern und Siedlern bemüht. Bis er es 1816 zu einem Massaker an den indigenen Völkern kommen ließ. Das prägt sein Bild als einen äußerst zwiespältigen Charakter. Mit einer Totenklage um den verstorbenen Mann beginnt die halbstündige Choreografie, konfrontiert dann den Gouverneur mit jenem Opfer als Kampf zwischen Staats- und Urgewalt, zeigt den Staatsmann schließlich gehetzt von Gewissensqualen, der in das Leichentuch des Mannes schlüpft. Eine Tänzerin unter einer synthetischen Opossumhaut neutralisiert die Szene ins Naturhafte. Archaisch mutet manche Sequenz an, erfrischend ungewohnt in der Formensprache, deren zeitgenössischer Zuschnitt beeindruckt.

Die volle Ensemblestärke von zehn Männern und neun Frauen setzen die beiden Cousins Beau Dean Riley Smith und Daniel Riley in »Miyagan« ein. Auch sie führen mit einem dynamisch den Boden nutzenden Bewegungsvokabular voller Schwünge und Rutscher vor, dass in der Erinnerung an das Erbe die Zukunft der Urvölker liegt: hier in der Familie, was das Wort »miyagan« meint.

Unter drei sukzessive herabfahrenden Gestellen mit Emufedern, Symbol ausgebreiteter Schwingen, finden sich die Menschen wie unter einem Schutzdach, Ahnen weisen ihnen diesen Weg. Was plakativ klingt, löst sich in poetische Bilder auf, deren Fremdheit ästhetischen Reiz hat. Wer nicht auf Verständlichkeit jedes Details pocht, wird an Stephen Pages dreiviertelstündigem Epos »Nyapanyapa« ebenso seinen Genuss haben.

Bilder der Künstlerin Nyapanyapa Yunupingu vom Stamm der Yolngu haben Page zu dieser Suite angeregt. An steinzeitliche Felsritzzeichnungen, wie sie in Australien zahlreich gefunden wurden, gemahnt, was hinter dem Tanz an Projektionen auftaucht. Wieder geht es um die Wahrung der Tradition, diesmal verhandelt an der Gestalt der Großmutter. Sie begehrt gegen die Versuche der Jugend auf, modernes,m urbanes Verhalten zu kopieren. Figuren wie aus Felsmalereien geschnitten regen die Menschen zur Rückbesinnung und Anverwandlung an. In einer rituellen Prozession zeichnen sie mit glimmenden Stöcken feierlich Rauchspuren in den Raum. Am Ende sind sie bei sich angekommen, riesig leuchtet das gegerbte Gesicht einer Urfrau aus unendlichen Fernen herüber.

Auch Stephen Page setzt Musik, hier von Steve Francis, Gesang und Wort ein, verbindet sie mit Kostümen, Bühnenbildern und seinem so dichten wie geschmeidigen Bewegungsgewebe zu einem überwältigenden Gesamtkunstwerk.

Wie für »Macq« David Page, einem weiteren, 2016 verstorbenen Bruder des Ensembleleiters, und Paul Mac für »Miyagan« gelingen auch Francis ungehörte, aus den Tiefen indigener Vergangenheit schöpfende Klänge, auf die man sich ebenso einlassen muss wie auf den gesamten Kanon von Bangarra, was Feuer machen heißt: Feuer der Begeisterung entfacht der Abend hörbar.

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