Es geht nicht nur um einen Traum

Der weltgeschichtliche Ort der Russischen Revolution von 1917. Von Peter Brandt

  • Peter Brandt
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Russische Revolution vor 100 Jahren war ein welthistorischer Vorgang, vergleichbar allenfalls mit der Großen Französischen Revolution ab 1789, doch mit innergesellschaftlich wie global noch dramatischeren und einschneidenderen Folgen. Das betrifft nicht nur die Ausstrahlung auf andere Länder und Weltregionen im Sinne eines Katalysators revolutionärer Bestrebungen und nationaler Befreiungsbewegungen. Es gilt auch für die gegenrevolutionären Kräfte unterschiedlicher Art: für die ebenfalls planetarisch und vermeintlich menschheitsbeglückende, nicht zufällig mit den Interessen des Großkapitals der USA harmonisierende amerikanische Konzeption der »One World«, eines einheitlichen liberalisierten Weltmarkts unter informeller politischer Hegemonie der USA einerseits sowie für die sich nach dem Ersten Weltkrieg formierende extreme Konterrevolution in Gestalt des Faschismus andererseits.

Wir sprechen von der Februar- und der Oktoberrevolution als zwei unterschiedlichen Vorgängen, dabei handelt es sich um einen zusammenhängenden Prozess. Die Unterscheidung einer »bürgerlich-demokratischen« ersten und einer »proletarisch-sozialistischen« zweiten Revolution ist im eigentlichen Wortsinn fragwürdig, denn schon die Februarrevolution wurde hauptsächlich von der streikenden städtischen Arbeiterschaft (und unterstützend von den Soldaten) getragen; auf dem Land blieb es im Frühjahr 1917 noch relativ ruhig. Die Arbeiter traten von Anfang an mit ihren eigenen Kampf- und Machtorganen, eben den Sowjets, sowie mit eigenen, großteils schon antikapitalistischen Zielen hervor. Die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und dann auch Bauern knüpften in gewisser Weise an die versammlungsdemokratische Tradition der Dorfgemeinschaften an und fanden ihre Ergänzung in den von Anfang an radikaleren Betriebskomitees.

Die Verschiebung des politischen Schwergewichts innerhalb der Arbeiterbewegung von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu den Bolschewiki erfolgte aus der Enttäuschung darüber, dass die an den (übrigens keineswegs unblutigen) Februar geknüpften Erwartungen sich nicht erfüllt hatten. Gewiss machte dieser Umsturz Russland zu einem freien, demokratischen (wenn auch noch nicht vom Volk formal legitimierten) Staatswesen unter einer Regierung des liberalen und liberal-konservativen Bürgertums, später unter Beteiligung der gemäßigten Sozialisten. Aber die wichtigste Frage der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung Russlands und damit einer eventuellen »bürgerlichen Revolution«, die Agrarreform, wurde gar nicht in Angriff genommen. Der Februar war auch als bürgerliche Revolution verfehlt. Man wird für das Revolutionsjahr 1917 insgesamt eher von einer spezifischen dialektischen Verschränkung allgemein- bzw. bürgerlich-demokratischer und antikapitalistisch-sozialistischer Aspekte sprechen müssen. In den ersten Wochen nach dem Oktoberumsturz war zudem noch nicht klar, wie weit gegen die Kapitaleigner gerichtete Enteignungsmaßnahmen der bolschewistischen Regierung gehen würden. Radikaldemokratische Ziele und der versprochene Friedensschluss standen zunächst im Fokus. »Land - Brot - Frieden« hieß die Parole.

Im Hinblick auf die Lebensverhältnisse des werktätigen Volkes stand Russland am unteren Ende des europäischen Spektrums. Das betrifft den Krankheitsstand aufgrund eines in der Fläche kaum entwickelten Gesundheitswesens und die elenden Wohnverhältnisse ebenso wie den niedrigen Alphabetisierungsgrad von allenfalls einem Viertel um 1900. Die russische Arbeiterklasse, im weiteren Sinn von abhängig beschäftigten Handarbeitern ca. 15 Millionen, im engeren Sinn nicht mehr als 4,2 Millionen Beschäftigte in Fabriken, Bergwerken und bei der Eisenbahn, war einerseits noch eng mit der Bauernschaft, aus der sie sich ganz überwiegend rekrutierte, verbunden, aber andererseits in einer modernen und hochkonzentrierten Großindustrie, hauptsächlich angesiedelt in oder um Petersburg und Moskau, zusammengefasst und zudem in der Regel stärker alphabetisiert als die Bauern. Die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken waren eher frühindustriell, die inner- und außerbetrieblichen Rechte der Arbeiter rudimentär.

Die Machtübernahme der bei Revolutionsbeginn nicht mehr als 24 000 Mitglieder umfassenden bolschewistischen Partei (bis zum Sommer sollte sich die Zahl aber bereits mehr als verzehnfachen) wurde möglich und beinahe unvermeidlich, als weder der bürgerliche »Progressive Block« noch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich willens bzw. fähig zeigten, den zerfallenden russischen Staat aus dem Krieg herauszuführen. Dabei hatte der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat im März 1917 in seinem Manifest »An die Völker der ganzen Welt« einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen auf der Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts proklamiert - mit Zustimmung der bolschewistischen Fraktion, die wie die anderen Deputierten damals einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten ablehnte und das allgemeine Kriegsende durch den Druck der Volksmassen auf die imperialistischen Regierungen hier wie dort erzwingen wollte.

Die Bolschewiki haben die frisch gewählte Konstituante zwar bei ihrem Zusammentritt gleich wieder auseinandergejagt; die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten es aber aus Rücksicht auf ihre bürgerlichen Koalitionspartner monatelang gar nicht erst gewagt, während des Krieges Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung durchzuführen. Die Position Lenins (und im Wesentlichen auch Trotzkis), die auf den fortgesetzten Kampf gegen Menschewiki und gemäßigte Sozialrevolutionäre gerichtet war und den Sturz der Provisorischen Regierung ins Auge fasste, konnte gegen anfänglich großen Widerstand im Lauf einiger Wochen innerhalb der bolschewistischen Partei durchgesetzt werden. Am Ende stimmten mit Kamenew und Sinowjew aber immerhin noch zwei hoch angesehene Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees gegen den Aufstandsbeschluss.

Nach dem Aufstand gegen den Zarismus im Frühjahr 1917 und dann während und im Gefolge des Oktoberumsturzes konzipierten die Bolschewiki, speziell Lenin, das Projekt einer »Sowjetdemokratie« des werktätigen Volkes, die in ihrem partizipatorischen Gehalt jeder »bürgerlichen Demokratie« überlegen sein sollte. Bekanntlich blieb von der Sowjetdemokratie, auch wenn das anfangs nicht intendiert war, schon während des Bürgerkriegs zugunsten der Diktatur der Avantgardepartei, in der allerdings noch offen und kontrovers diskutiert wurde, wenig übrig. Das endgültige Verbot der konkurrierenden sozialistischen Parteien und namentlich das interne Fraktionsverbot der Bolschewiki - gerade angesichts des Übergangs zur Neuen Ökonomischen Politik mit ihrer teilweisen Wiederherstellung der Marktwirtschaft für erforderlich gehalten - erledigte 1921 den Rest. Gewiss kann die Entwicklung nicht einseitig Lenin, Trotzki und ihren engeren Mitstreitern angelastet werden; auch auf Seiten der Menschewiki und der Mehrheit der Sozialrevolutionäre (die linken Sozialrevolutionäre koalierten einige Monate mit den Bolschewiki) war 1917/18 die Bereitschaft gering, zu einer gemeinsamen Regierung der »revolutionären Demokratie« zu kommen. Eine solche hätte Anfang 1918 sowohl in den Sowjets als auch in der Konstituante über eine überwältigende Mehrheit verfügt.

Als die »Weißen« den bewaffneten Widerstand begannen, kurz nachdem schon ausländische Mächte interveniert hatten (und in der Folge Russland weitgehend von der Versorgung mit Lebensmitteln und Rohstoffen abzuschneiden vermochten), machte sich die Eigendynamik des Bürgerkriegs geltend, der von allen Seiten mit großer Brutalität und Grausamkeit geführt wurde. Die schrankenlose Eskalation des Geschehens erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass neben den Hauptparteien der Roten und der Weißen (samt ausländischen Interventionstruppen) etliche andere Gruppierungen auf eigene Faust und mit eigenen Zielen in Aktion traten: von Partisanenverbänden nationaler Minderheiten über Kosaken bis zu regelrechten Räuberbanden.

Die Bolschewiki siegten hauptsächlich aus vier Gründen: 1. Sie hatten die bessere und vor allem eine einheitliche militärische und politische Führung. 2. Sie hatten den Bauern, der Masse der Bevölkerung, das von diesen bewirtschaftete und eigenmächtig aufgeteilte Gutsbesitzerland übereignet - ein Sieg der Weißen barg die akute Gefahr einer Rückkehr der Großgrundbesitzer, an der die Bauern kein Interesse haben konnten. 3. Die Gewährung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die dem Zarenreich einverleibten nichtrussischen Nationalitäten einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit spaltete die potenziell gegenrevolutionären Kräfte. 4. Die neuen Machthaber boten am ehesten Aussicht auf Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols - Ordnung statt Chaos -, und sie eröffneten überdies Arbeitern und Bauern nie gekannte Aufstiegsmöglichkeiten.

In Erwartung der Fortsetzung des weltrevolutionären Prozesses, der 1917 eingeleitet zu sein schien, hatte die kühne Aktion der Bolschewiki zunächst eine begeisterte Resonanz beim linken Flügel der Arbeiterbewegung aller Länder - und Sympathie darüber hinaus - gefunden. Nach den Schrecken des Völkerkriegs im Interesse der konkurrierenden Imperialismen schien der Einsatz auch massiver Gewalt zum Sturz des kapitalistischen Systems mehr als gerechtfertigt. Die Kommunistische Partei unter Führung Lenins und ihre Diktatur war dennoch etwas qualitativ anderes als die persönliche Herrschaft Stalins, unter der personell, strukturell und geistig der ursprüngliche Bolschewismus in einen neuen, irrational-despotischen Aggregatzustand überführt wurde.

Die klassische Arbeiterbewegung in ihrer revolutionären wie in ihrer reformistischen Strömung scheint - jedenfalls in Europa - heute an ihr Ende gekommen zu sein. Das bedeutet nun allerdings nicht, dass den Kapitalismus korrigierende oder grundsätzlich kritisierende Kräfte nicht in verändernder Gestalt wirksam werden. Alle historische Erfahrung spricht vielmehr gegen die Annahme dauerhafter Domestizierung der abhängigen Menschen, dauerhafter Zersplitterung sozialer (und auch ökologischer) Protestbewegungen. In welchen parteipolitischen Konstellationen oder Kombinationen eine neue Sozialbewegung auch immer Ausdruck finden könnte, ich zweifele nicht, dass sie auf Organisationsformen, auf Traditionen und Ideale der alten Arbeiterbewegung einschließlich des in der Isolation erst entarteten und schließlich gescheiterten Roten Oktober zurückgreifen wird.

Es geht nicht nur um den alten Traum der Menschheit von einem freundlichen und solidarischen Gemeinwesen, einer Gesellschaft der Freien und Gleichen. Es handelt sich möglicherweise sogar um das Überleben unserer Gattung angesichts der nur global lösbaren ökologischen Probleme und des chaotischen Staatensystems in der heutigen Welt, die immer häufiger von Kriegen und Hungersnöten heimgesucht wird. Das Elend schreit zum Himmel. Der Kapitalismus hat in seiner mehrhundertjährigen Geschichte enorme Produktivkräfte entfesselt; wir erleben jetzt auf breiter Front deren Verwandlung in Destruktivkräfte.

Der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt war Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität in Hagen und ist u. a. Mitglied der Historischen Kommission der SPD; er publizierte vor allem zu Verfassungsgeschichte.

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