Letzte Fragen? Neue Fragen, also die alten

»Chorfantasie« - ein Theater- und Lebensbuch von B. K. Tragelehn

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt diesen starken Satz von Marx: Revolutionen seien die Lokomotiven der Weltgeschichte. Es gibt diesen weitaus stärkeren Satz von Walter Benjamin: Revolutionen seien der Griff der Reisenden, also des Menschengeschlechts, nach der Notbremse.

Der Regisseur B. K. Tragelehn jongliert gern mit solchen Sätzen. Wirft sie also hoch wie Bälle, aber in der Luft des Aussprechens müssen sie aneinanderknallen. Am besten Funken schlagen aus ihren Gegenrichtungen. So träumte er immer auch vom Theater. Die Inszenierungsarbeit Tragelehns war nie darauf gerichtet, dem Publikum ein Werk nahe bringen zu wollen, nein, jede Eigenart, jeder Eigensinn besteht auf Fremdheit: Gutes Theater nähert sich nicht, es entfernt sich. Es macht zunichte, was politische Programmatik aus dir machen will. Deshalb gehen in der Kunst Aufbauhilfe und Abbruchunternehmen Hand in Hand; keine Euphorie ohne Schmerzbewusstsein; kein Anspruch ohne Einspruch. Bei der Arbeit gilt, unbedingt »den falschen Eindruck abwehren, dass da etwa versucht worden wäre, eine Idee zu verwirklichen«.

In diesem Büchlein »Chorfantasie« denkt Tragelehn über den Chor nach, »Theater ist entstanden, als aus dem Kreis des Chores heraus Protagonisten traten«. Was als Notatesammlung auf den ersten Blick sehr spartenspezifisch wirkt (und es auch ist!) - es lohnt auch den nächsten Blick. Denn da weitet sich der locker collagierte Text - in dem Tragelehn sehr konkret, sehr präzis Proben, Bühnenräume, Inszenierungen und Theater in der DDR und in der BRD beschreibt -, zum spitzen Denken über die Lebenskunst der Verstörung. »Wenn alle dafür sind, bin ich auch dagegen.« Tragelehn reflektiert, und wir hören Schleef stottern, sehen Müller rauchen; im Reden über die Welt wird just jener Geist beschworen, der linken Menschen mitunter so schwer fällt: »Ich denke, man darf auch die großen Haltungen der Gegenseite nicht verloren geben.«

Der Regisseur, Lyriker, Übersetzer Tragelehn war Bertolt Brechts letzter Meisterschüler, Heiner Müller wurde ihm ein Freund. Gelernt hat er von beiden: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein erfahren, das bei ihm lüstern als ausgesprochenes Lustigsein daherkommt. Kichernd. Als jene unverhohlene, dann wieder dezente sächsische Breitguschigkeit - die gern Sprache knackt, um neue Bedeutungskerne freizulegen. Tragelehn ist eine Wortspielernatur. Er mag kräftige Sätze - direkt auf den besagten Widerspruch zu, der ihm willkommen im Wege steht. »Jäte ich das Unkraut, verletze ich die Blumen./ Gieße ich die Blumen, pflege ich das Unkraut.« So schrieb er's, und im vorliegenden Buch heißt es: »Ha! Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen? Geschichte ändert sich immer, mit jeder Gegenwart. Das ist der Grund, warum es keine letzten Fragen gibt, sondern nur immer neue.« Die stets die alten bleiben.

In über dreißig Jahren hat Tragelehn die wohl meisten Müller-Theatertexte inszeniert. Im Osten, im Westen, im wiedervereinigten Deutschland. Im Osten eine Geschichte der Verbote, im Westen ebenfalls eine Chronik des Unliebsamen, im neuen Deutschland dann eine Erinnerungsarbeit - aber doch mitten im Unerledigten. Den Weg vom Herbst 1989 zur »Wiedervereinigung« nennt er eine »kurzschlüssige Beendigung des Aufruhrs durch die benachbarte Ordnungsmacht«. Einmal spricht er von den Gespenstern aus der Zukunft. »Sie rufen uns eine gewendete Losung zu: Von der Sowjetunion lernen heißt untergehen lernen. Noch macht niemand Miene, ihr zu folgen.«

Der Regisseur bezeichnet es stets »schon als halbe Kunst am Theater, eine Geschichte freizuhalten von Erklärungen«. Geschichte, das Doppelwort: Historie und Erzählung. Das »sozialistische« System ist (auch) daran gescheitert, dass die Erklärungen immer dem Leben vorauseilten, es einkeilten, ihm den Atem flach drückten. Mit primitiven Tabus, staubig proletarischem Dünkel, doktrinärer Einschüchterung.

Die Texte des Buches sind durchschimmert von dem, was Heiner Müller bewog, von der Zeit nach 1945 als von seiner schönsten Zeit zu sprechen. Weil »alles kaputt« war. Immer eigentlich ist dieser Zustand: »alles kaputt«. Das Wozu des Lebens, der Kunst? Es liegt im Engagement für genau das, was nicht funktioniert, was also den Fehler ins Getriebe drückt, was sich dem Vormarsch der Maschine, also auch des funktionierenden Menschen, entgegenstellt. Tragelehns Pläsier. Denken als Durchgangsstadium. Ein Transit, das du selber bist; wir haben alles hinter uns, nur uns selbst nicht.

Tragelehn collagiert, und der Beihelfer dieser gedankengierig theoretisierenden, fabulierenden Arbeitsbiographie ist ihm der westdeutsche Theaterkritiker Henning Rischbieter (1927 - 2013), fast vierzig Jahre Mitherausgeber von »Theater heute«. Ihm ist das Büchlein gewidmet, er ist hie und da Gesprächspartner. Kristallin bearbeitete, pointenbewusste, wahrlich kurz-weilige Interviews. Zack, zack, ping, pong. Viele Jahre wohnte Tragelehn in den Sommermonaten in einem Häuschen auf der estländischen Insel Saaremaa. Ein Foto zeigt ihn und Rischbieter, zwei Männer in Betrachtung nicht des Mondes, sondern der roten untergehenden Sonne. »Die deutsche Linke, beide Flügel in der Niederlage vereint.«

B. K. Tragelehn: Chorfantasie. Verlag Vorwerk 8, 70 S., Klappenbr., 14 €.

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