»Frei von Halluzinationen«

Falladas verschollene Krankenakte aus der Stralsunder Psychiatrie kommt ins Landesarchiv

  • Martina Rathke, Stralsund
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit den Diagnosen »Morphinismus« und »degenerative psychopathische Constitution« lässt sich Rudolf Ditzen am 5. Januar 1921 in die Provinzialheilanstalt Stralsund einweisen. Unter seinem später bekannten Pseudonym Hans Fallada hat der 26-jährige Ditzen gerade seinen ersten Roman »Der junge Goedeschal« veröffentlicht. Fallada geht freiwillig in die Stralsunder Klinik.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen in verschiedenen Sanatorien war es dem angehenden Schriftsteller 1920 zwar gelungen, sich von seiner mehrjährigen Morphiumabhängigkeit zu lösen. Auf Schlafmittel blieb Fallada jedoch angewiesen. Mit dem sechswöchigen Klinikaufenthalt in Stralsund verband der Autor das Ziel, sich auch von den Narkotika zu befreien. Das ist ihm gelungen - zumindest für diese Lebensphase. »Unter vielem Dank und in guter Verfassung« verließ Ditzen am 14. Februar die Klinik.

Der Aufenthalt in der Stralsunder Provinzialheilanstalt war eine bislang kaum bekannte Station einer Odyssee durch Kliniken und Sanatorien, um seine Abhängigkeiten von Alkohol und Morphium zu besiegen. Fallada, der mit seinen Romanen »Jeder stirbt für sich allein« oder »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst« weltberühmt wurde, starb 1947 an Herzversagen - beschleunigt durch seinen jahrelangen Drogenkonsum.

Die Stralsunder Krankenakte Falladas galt lange Zeit als verschollen. Zusammen mit rund 1000 weiteren Krankenakten der Heilanstalt aus den Jahren 1912 bis 1939 geht sie nun in das Landesarchiv von Mecklenburg-Vorpommern.

In den großen Fallada-Biografien findet der Aufenthalt in der Stralsunder Klinik keine Erwähnung. Ein Hinweis auf eine Ditzen-Akte gab es im Entlassungsbuch der Pommerschen Provinzheilanstalt aus dem Jahr 1921, berichtet der Stralsunder Forensische Psychiater und Leitende Oberarzt im Helios Hanseklinikums, Jan Armbruster. Doch die Akte selbst fehlte, wie sich nach intensiver Suche im Jahr 1992 herausstellte.

Etwa 19 Jahre später stößt Armbruster dann bei einer neuerlichen Recherche im Krankenhausarchiv auf die Akte. Der überraschende Fund eröffnet nun Raum für Spekulationen: Es ist möglich, dass jemand die Unterlagen des prominenten Patienten wieder in das Archiv zurückgebracht hat.

»Damit würde das Stralsunder Krankenblatt das Schicksal über Ditzens früheren Psychiatrieaufenthalt in Jena 1911 teilen«, sagt Armbruster. Auch diese Akte, die nach dem gescheiterten Doppelselbstmordversuchs Ditzens und seinem Schulfreund Hanns Dietrich von Necker angelegt wurde, galt als verschollen, bis sie 2005 im Nachlass eines früheren Klinik-Direktors wieder gefunden wurde.

Den Narkotika-Entzug Ditzens in der Stralsunder Klinik beschreibt Armbruster als typisch für die Zeit. Zur Entwöhnung von den Hypnotika Luminal und Paraldehyd erhielt Ditzen das Medikament Trional - in absteigender Dosierung. Nach einer anschließenden Suggestion wurden Ditzen einige Tropfen Chinin als Schlafmittel verabreicht, auf die nach vier Tagen dann ganz verzichtet wurde, wie aus dem elfseitigen Krankenbericht hervorgeht. Begleitet wurde die Therapie durch Spaziergänge. Ditzen habe zudem berichtet, dass er an einem Lustspiel schreibe.

Angesichts der unspektakulären Symptomatik wirft Armbruster die Frage auf, inwieweit der Aufenthalt Ditzens in der Anstalt tatsächlich notwendig gewesen sei. Der Psychiater und die Germanistin Sabine Koburger vermuten, dass Ditzen, der sich »in ruhiger gleichmäßiger Stimmung, frei von Halluzinationen« in die Klinik hatte einweisen lassen, die Zeit bewusst zum Schreiben und Recherchieren genutzt haben könnte. Fallada veröffentlichte 1923 seinen Roman »Anton und Gerda«, in dem er aus der Distanz des zufällig in eine Anstalt geratenen Beobachters Erlebnisse in einer psychiatrischen Anstalt beschreibt. Diese Perspektive ähnele Ditzens Position, sagt Armbruster. dpa/nd

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