»Mein lieber Lord Rothschild ...«
Angelika Timm hat 100 Dokumente aus 100 Jahren des Konfliktes in Palästina veröffentlicht
Im späten Herbst des Jahres 1917, genauer: am 2. November, zu einer Zeit, als England und Frankreich sich auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vorbereiteten und die Welt neu aufteilten, schrieb der britische Außenminister, Arthur James Balfour, an den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Großbritannien Lord Lionel Walter Rothschild: »Mein lieber Lord Rothschild, zu meiner großen Genugtuung übermittle ich Ihnen namens S. M. Regierung die folgende Sympathieerklärung mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen … Seiner Majestät Regierung betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei klar verstanden werde, dass nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nicht jüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte.«
Mit dieser Dokument beginnt die Ausgabe von 100 Dokumenten, die den Kampf für oder gegen die Entstehung eines jüdischen Staates in Palästina und in der Folge um die Bildung eines gemeinsamen Staates von Juden und Palästinensern auf diesem Territorium oder für bzw. gegen die Bildung zweier gesonderter Nationalstaaten begleitet haben. In gedrängtester Form fasst die Herausgeberin, Angelika Timm, auch langjährige Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv-Jaffa, ihr Anliegen zusammen: »Das Kompendium ist thematisch … auf die Einhegung der Antagonismen mit nicht militärischen Mitteln … beschränkt … Es will den an nahöstlicher Zeitgeschichte Interessierten zugleich ein handhabbares Arbeitsmaterial und Nachschlagewerk anbieten.« Dies ist ein Understatement.
Was so trocken klingt - eine Sammlung von 100 Dokumenten aus 100 Jahren - liest sich wie ein politischer Krimi und ein Thriller. Die kurzen Einführungen, die Angelika Timm zu jedem der Dokumente gibt, ordnen diese mit größter Sachlichkeit und Zurückhaltung ein. Sie verweist auf die immer wieder verpassten Chancen, die angestrebten Durchbrüche. Es wird ein Suchprozess deutlich, der an allem gescheitert ist: den Großmächten wie den kleineren Mächten, der mangelnden Größe der beteiligten Politikerinnen und Politiker wie an den Blockaden auf der jüdisch-israelischen wie der palästinensischen Seite. Weder nach 1945 noch nach 1990 gelang es, eine tragfähige Lösung durchzusetzen, auch wenn alle Elemente auf dem Tisch lagen. Das Richtige zu erkennen, ist das eine. Es mit aller Kraft zu wollen, das Zweite. Die Macht, es dann auch durchzusetzen, das Dritte. Zu oft fehlten alle drei Elemente. Und wenn einmal zwei davon vorhanden waren, fand sich nicht das dritte. Davon erzählen diese Dokumente und die Einführungen der Herausgeberin.
Ich möchte aus dem Dokument 97, der Rede des Noch-US-Außenministers John Kerry vom 28. Dezember 2016, zitieren. Es ist eine sehr nachdenklich Rede. Dort heißt es u. a.: »Heute gibt es eine Zahl - es leben gleich viele Juden und Palästinenser zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Sie haben eine Wahl. Sie können sich entscheiden, in einem Land zu leben oder sie können sich trennen in zwei Staaten. Aber es gibt eine grundlegende Wahrheit: Wenn die Wahl auf einen Staat fällt, dann kann Israel nur entweder jüdisch oder demokratisch sein - nicht beides - und es wird niemals wirklich Frieden geben. Und zudem werden die Palästinenser im Rahmen eines Staates niemals ihr großes Potential für eine eigenen Heimatstaat haben.«
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, von der in den Dokumenten und auch der Öffentlichkeit fast nicht gesprochen wird: die Vertreibung der noch in Palästina lebenden Palästinenser, manchmal euphemistisch »Transfer« genannt. Zu glauben, dass ein Konflikt auf ewig eingefroren bleiben kann, der so zerstörerisch immer weiter wirkt, ist eine Illusion. Wenn weder Frieden in einem Staat noch Frieden zwischen zwei Staaten gefunden wird, dann bricht sich dieser Konflikt anders Bahn - als Vertreibung aller Nichtjuden aus dem Gelobten Land. Wir müssen darüber heute reden, damit es nicht morgen geschieht. Und das von Angelika Timm herausgegebene und mit größter Sachkenntnis vorgelegte Buch wird uns helfen, von einem Zustand, wo viele über etwas reden, von dem sie nur wenig wissen, überzugehen zu einem Dialog der Kenntnisreichen.
Angelika Timm (Hg.): 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt. AphorismA Verlag, 728 S., geb., 35 €.
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