Siehe, er kann sprechen!

Jens Wonneberger erweist sich einmal mehr als Meister des literarischen Kammerspiels

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 3 Min.

Den Mann, dem wir in diesem Buch wiederbegegnen, hatte Jens Wonneberger bereits in seinem Roman »Goetheallee« (2014) zur Hauptfigur gemacht: einen Schriftsteller, bei dem es mit dem Schreiben klemmt. Seine Frau Sabine - erfolgreiche Fallmanagerin im Jobcenter - weiß, wo es langgehen müsste: Die Geschichten, sagt sie, liegen doch auf der Straße. Aber sie hilft ihrem Mann damit nicht. Dessen Niedergeschlagenheit legt sich auf die Ehe. Um ihre Beziehung zu retten, lässt sich Sabine eine gemeinsame Reise nach Italien einfallen - auf den Spuren Goethes. An Bord des Busses ist auch die örtliche Buchhändlerin, die nie ein Buch von Sabines Mann vorrätig hatte. Just im Moment des Grenzübertritts nach Tirol, an einer Raststätte, steigt der Mann nicht wieder ein und beginnt eine planlose Flucht. Vielleicht ist es auch die berühmte Wanderung zu sich selbst.

Hier endet der Roman, und hier setzt der neue ein. Das Erste, was der Mann nach seiner Flucht in die Berge sieht, erfahren wir in »Sprich oder stirb«, ist die markierte Unglücksstelle eines Bauern, der hier vor über 150 Jahren abgestürzt war. Darin folgt ihm der Flüchtende und liegt im ersten Kapitel auf dem Operationstisch. Sein Kopf ist geöffnet, man operiert an seinem Gehirn, und er muss ständig reden, damit der Operateur weiß, dass er seine Schnitte richtig setzt. »Und dann«, spricht der Mann, »ist die Müdigkeit ein riesiges Tier und ich würde mich ihm gern ergeben. Doch wieder ist da die Stimme des Chirurgen, die, nun noch eindringlicher, fordert, dass ich reden soll. Da begreife ich, dass es um mein Leben geht, ich nun um mein Leben reden soll.«

Er spricht unaufhörlich - erst an Professor Ostermann gerichtet, dann an Schwester Krystyna, dann an sich selbst. Er spricht von der Liebe zu seiner Urgroßmutter und von deren Liebe zu ihm. Er spricht von seiner Furcht davor, dass seine Frau ihn nicht liebt, sondern eine Affäre mit dem Hausmeister hat. Er spricht und spricht. Es ist wie in 1001 Nacht: Wenn seine Geschichten versiegen, stirbt er.

Zutage kommt eine Figur, die ein Verwandter der Figurenwelt von Wilhelm Genazino ist: glücklos vergraben ins Glück. Sein Leben rückt uns so nahe, dass wir dem Unglücklichen jedes Glück wünschen. Just wenn wir als Leser sagen: Möge seine Flucht vor Frau und Schreibtisch doch die Erfüllung bringen, erinnern wir uns aber wieder an den Romananfang und wissen, der Absturz kommt gleich: »An mir zog nur die Luft vorbei. Bei mir war es nur ein Rauschen. Der Wind war eine blitzende Klinge aus Stahl. Dann schlug ich auf. Ein Geräusch, als wär’s ein nasser Sack. Dann Stille. War denn mein Leben nichts?«

Auch in diesem Roman - seinem siebten - zeigt sich, dass der 1960 im sächsischen Ohorn geborene, heute in Dresden lebende Autor die dramatische Handlung nicht braucht. Jens Wonneberger ist ein Meister des Kammerspiels. Noch für die kleinsten Details findet er eine mühelose, leichte Sprache. Alles fügt sich inwendig und nach außen zu einem kleinen Leben, das gelebt werden will und es jederzeit verdient. Wäre die polnische Schwester Krystyna nicht dem dicken Professor Ostermann auf den Leim gegangen und von ihm schwanger, wer weiß, vielleicht hätte er sie gegen seine an Gefühlen arme Sabine eintauschen können. So aber freut er sich am Ende doch, dass Sabine ihn aus dem Krankenhaus abholen kommt.

Wonneberger hat gut daran getan, die Hauptfigur aus »Goetheallee« noch einen weiteren Roman lang zu begleiten - für eine Huldigung des Erzählens als Rettung vor dem Tod. »Sprich oder stirb«: ein Kammerspiel zwar, aber mit großem Anspruch.

Jens Wonneberger: Sprich oder stirb. Roman. Verlag Müry Salzmann, 175 S., geb., 19 €.

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