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Vom Übermut des Lebens
Franz Hohler: Sein Roman ist spannend - und wie aus der Zeit gefallen
»Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären.« Nicht nur des vielversprechenden ersten Satzes wegen scheint der neue Roman von Franz Hohler in mancher Hinsicht wie aus der Zeit gefallen.
• Franz Hohler: Das Päckchen. Roman.
Luchterhand, 224 S., geb., 20 €.
Ernst Stricker, Bibliothekar, steht vor einem Fernsprechapparat in der zugigen Unterführung des Berner Hauptbahnhofs und möchte seine Frau Jacqueline, ebenfalls Bibliothekarin, anrufen. Dass er kein Handy besitzt, ist sein Beitrag zum Erhalt öffentlicher Fernsprecher. Eine fremde weibliche Stimme nennt seinen Vornamen. Sie gibt ihm eine Adresse durch und bittet um Hilfe. Spontan macht er sich auf den Weg in die Gerechtigkeitsgasse. Auch die behäbige Atmosphäre der Stadt Bern trägt zu diesem Eindruck bei.
»Diese Stadt, so kam es ihm vor, war eindeutig für den Menschen gebaut worden, und er wurde immer von einem angenehm ruhigen Gefühl ergriffen, wenn er sich durch ihre Gassen treiben ließ.« Unterm Dach des mehrgeschossigen Hauses öffnet eine ungepflegt wirkende alte Dame, sichtlich verwirrt. Sie sieht in ihm ihren Neffen, holt aus der Schublade des Küchentischs ein Päckchen und überreicht es mit der flehentlichen Bitte, es mitzunehmen. Ihr ängstlicher Kommentar: »Sie haben schon zweimal danach gesucht.«
Daheim in Zürich packt Ernst Stricker den »Abrogans« aus, ein lateinisch-deutsches Wörterbuch aus dem 8. Jahrhun-dert, handgeschrieben auf Pergament, prächtig ausgestattet. Davon sind nur drei Abschriften bekannt. Wie kommt das kostbare Werk in den Besitz der alten Frau, die kurz vor einem späterem Besuch durch einen Sturz von der Treppe stirbt? Unfall oder Mord? Unter den Schaulustigen war auch der echte Neffe.
Auf den Protagonisten fällt ein hässlicher Verdacht, er verstrickt sich, zumal er seiner Frau Jacqueline nichts erzählt hat. Sie haben spät geheiratet, sind kinderlos. Der Schlüssel zu allen Rätseln liegt in der einsamen Berglihütte unterhalb des Mönchsjochs, die Ernst allein aufsucht. Er findet ein Kriegstagebuch. Beim Rückweg bricht er in eine Gletscherspalte.
Nachdem der Leser bereits diversen Mutmaßungen nachgegangen ist, eröffnet Hohler eine zweite Erzählebene, auf der die Geschichte vom jungen Benediktinermönch Haimo und dessen verbotener Liebe zu Maria ausgebreitet wird. Dieser war Scriptor des »Abrogans« und wurde von seinem Abt in Weltenburg a. d. Donau beauftragt, das Werk zum Stammsitz des Ordens nach Montecassino zu bringen. Zusammen mit Maria macht er sich auf den gefahrvollen Weg über die Alpen.
Hohler in Höchstform. Er entwickelt eine zu Herzen gehende Geschichte, die er mit expliziten Verweisen auf Irène Némirowskys Roman »Leidenschaft« und J. P. Hebels berühmter Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« motivisch festzurrt. Er erzählt mit Liebe zum Detail und dem ihm eigenen Humor, den er gekonnt einstreut und aufblitzen lässt wie die geschmückten Majuskeln in der alten Handschrift.
Es geht um jene Treue, für die es an der Kasse keine Punkte gibt: Treue zum Übermut des Lebens. Zwei Liebesgeschichten, jede für sich ergreifend, die durch den »Abrogans« und ein Kriegsverbrechen in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs verbunden sind. Am Ende reisen Ernst und Jacqueline mit ihrer eben geborenen Tochter Maria und dem Buch zum Montecassino. Sie vollenden Haimos Auftrag.
So entdeckt sich das aus der Zeit Gefallene schließlich als zeitlos, als Verbundenheit in doppelter Hinsicht: die Liebe der beiden durch Jahrhunderte getrennten Paare und die diese Distanz überbrückende Liebe zum gebundenen Buch. Seltsam, dass das Zeitlose heute oft wie aus der Zeit gefallen erscheint.
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