Ein Hoch auf die Dauerstudenten
Etwas mehr Entschleunigung: Tom Kraftwerks Anleitung zum Nicht-Studieren.
Die Lebenserwartung in westlichen Ländern steigt dank des wissenschaftlichen Fortschritts stetig weiter in die Höhe. Sogar die Unsterblichkeit ist wieder im Gespräch. Doch obwohl das Leben länger wird, verstärkt sich seit Jahren in der Gesellschaft das Gefühl, weniger Zeit zu haben. Alles muss immer schneller gehen, Lebensziele müssen immer früher erreicht werden.
Diesen Zeitdruck bekommt dank der Studienreform im Zuge des Anfang der 2000er Jahre eingeleiteten Bologna-Prozesses, der mit einer Harmonisierung der Studienabschlüsse in Europa begründet wurde, besonders die heranwachsende Generation zu spüren. Mit 18 spätestens das Abitur, das inzwischen fast schon obligatorisch ist. Auch die meisten Berufsausbildungen setzen eine Hochschulreife voraus, ganz zu schweigen von dem Trend, dass heutzutage eigentlich nur derjenige etwas wert ist, der studiert hat. Dieses Studium beginnt dann direkt im Anschluss, von der Schulbank geht es in der Hörsaal. Die meisten der StudienanfängerInnen sind also gerade einmal volljährig und wählen - aus Mangel an Lebenserfahrung - ihren Studienplatz nach ihren schulischen Stärken und Interessen aus. Und natürlich nach dem Numerus Clausus, denn dieser ist fast das einzige Zulassungskriterium für Studiengänge an öffentlichen Universitäten.
Mit 18 Jahren also beginnt für viele das Bachelorstudium, für das seit den Bologna-Prozessen sechs Semester Regelstudienzeit vorgesehen sind. Wer mitgerechnet hat, weiß, dass die Studierenden nach diesem Modell dann idealerweise mit 21 Jahren ihren Hochschulabschluss in der Tasche haben. Dann sind sie, aus Sicht der Bildungspolitik, bereit für den Arbeitsmarkt. Nach aktuellem Stand müssten die Betroffenen bis zur Rente 46 Jahre lang arbeiten - vorausgesetzt, das Rentenalter von 67 Jahren wird künftig nicht weiter erhöht.
Wer sich zwei Jahre Lohnarbeit ersparen will, hängt noch einen Master an das Bachelorstudium an. Innerhalb von vier Semestern Regelstudienzeit erlangt man so mit 23 Jahren den nächsthöheren akademischen Abschluss. Was folgt, ist die Suche nach einem möglichst gut bezahlten Job für die nächsten 44 Jahre. Im Universitätsbetrieb kann man danach allerdings lange suchen.
Das Bologna-System sieht also insgesamt maximal fünf Jahre für ein akademisches Studium vor. In dieser Zeit sollen die Studierenden die Inhalte ihres Fachs genügend erforscht und verinnerlicht haben. Der Zeitplan ist straff, im Normalfall ergeben die geforderten Präsenzzeiten (also Vorlesungen und Seminare in der Uni) und das Selbststudium eine 40-Stunden-Woche. Der Nebenjob, auf den ein Großteil der Studierenden angewiesen ist, muss auch noch in den eng getakteten Zeitplan integriert werden.
In dem Begriff »Regelstudienzeit« manifestiert sich der Zeitdruck, unter dem die Studierenden heutzutage stehen. Denn wer die vorgesehene Semesterzahl überschreitet, der wird zunächst in finanzielle Nöte geraten: Das Bafög-Amt stellt die Zahlungen ein, und ab dem 25. Lebensjahr werden Krankenkassenbeiträge von etwa 80 Euro im Monat fällig, wohingegen das Kindergeld wegfällt.
Vor allem aber der gesellschaftliche Druck ist verantwortlich dafür, dass viele junge StudentInnen in akademischen Selbststress verfallen. Wer länger studiert als vorgesehen, muss sich rechtfertigen. Vor dem Amt, den Eltern, den Kommilitonen. Die Burnout-Quote ist bei Studierenden dramatisch hoch.
Schon von Anfang an stand die aus dem Bologna-Prozess folgende Studienreform in der Kritik. Doch auch die Proteste an den Universitäten selbst gegen die Verdichtung und Verschulung des Studiums konnten die Reform nicht verhindern. Geändert hat sich seitdem kaum etwas; die Bachelor- und Masterstrukturen sind sowieso geblieben. Jetzt können sich die Studierenden nur noch selbst helfen - indem sie sich von dem Leistungsdruck befreien und mit einem Langzeitstudium gegen die Studienreform rebellieren.
Das jedenfalls ist der Vorschlag des selbst ernannten Dauerstudenten Tom Kraftwerk, den er in seinem Buch »Warten auf Foucault« mit Anekdoten aus dem Studentenleben seinen Kommilitonen unterbreiten will. Der eigentliche Sinn des Studierens bestehe laut Kraftwerk darin, zu »chillen, bevor man bis zu seinem Tod schuften muss«. Zwar lässt sich der inzwischen 25-jährige Autor den Großteil des Buches über sein WG-Leben, Unipartys und Promotionjobs am Ballermann aus und nach einer ausformulierten Kritik am Bildungssystem sucht man vergebens.
Dennoch finden sich in Kraftwerks »Anleitung zum Nicht-Studieren« Passagen, die die Studis von heute sich zu Herzen nehmen sollten. Beispielsweise, dass man sein Studium erst dann abschließen sollte, wenn man sich dazu bereit fühlt, ins Berufsleben überzugehen. »Bildung ist immer etwas Individuelles. Die Schulen versagen an diesem Individualismus ganz offensichtlich, doch im Studium hat man es selbst in der Hand. Und man sollte diesen Umstand nutzen«, so der Ratschlag.
Fairerweise muss jedoch dazu gesagt werden, dass Tom Kraftwerk sein Plädoyer gegen die Regelstudienzeit und für das spaßige Studentenleben aus einer durchaus privilegierten Position heraus hält. Mit den, wie er selbst sagt, 800 Euro zum Verprassen, die er dank Bafög, Kindergeld und dem Nebenjob im Weinladen bei Mietkosten von unter 200 Euro monatlich auf dem Konto hat, entspricht er bei weitem nicht dem Gros der prekären StudentInnen.
Außerdem hat er seinen Bachelorabschluss in Soziologie mit nur wenigen Extrasemestern bereits erreicht. Er gönnte sich den Luxus eines Masterstudiums, nachdem er nach einem Fernsehauftritt bei ProSieben und im Frühstücksfernsehen eine Twitterberühmtheit wurde. Neben sage und schreibe 28 000 Followern sprang dabei auch noch der Buchvertrag mit dem Bastei Lübbe Verlag heraus. Den Druck, unter dem so viele StudentInnen derzeit stehen, mag deshalb Kraftwerk nicht so sehr verspüren. Dennoch kann man seinem Wunsch, den er am Ende seines Buches gegenüber seiner Generation ausspricht, nur zustimmen: dem Wunsch nach etwas mehr Entschleunigung.
Tom Kraftwerk: Warten auf Foucault - Anleitung zum Nicht-Studieren. Verlag Bastei Lübbe. 224 S., brosch., 10 €
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