Späte Versöhnung einer Nation
Finnland vor 100 Jahren - Revolution, Bürgerkrieg und Unabhängigkeit. Von Andreas Knudsen
Das Großfürstentum Finnland, seit 1809 Teil des Russischen Reiches, ist von den schlimmsten Folgen des Krieges, der später der Erste Weltkrieg genannt wird, verschont geblieben. Dank seiner Sonderstellung als de facto autonomes Gebiet können seine Söhne nicht in die russische Armee einberufen werden, und nur wenige Freiwillige sowie aristokratische Karriereoffiziere dienen in ihr. Im Gegensatz zu den baltischen Teilen Russlands bleibt Finnland von Kriegshandlungen verschont. Die Industrie des Landes hat von der mangelnden westeuropäischen Konkurrenz auf dem russischen Markt profitiert; bis Anfang 1917 erlebte sie einen kräftigen Aufschwung. Im Gegenzug sichern Getreidelieferungen aus Russland die stabile Ernährungslage.
Das alles ändert sich im Verlaufe des Sommers. Grundnahrungsmittel werden rationiert, ein Schwarzmarkt entsteht, Inflation höhlt die Löhne aus und die organisierte Arbeiterschaft reagiert mit Streiks auf die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die politische Landschaft kommt in Bewegung, die Fronten zwischen Sozialdemokraten und Konservativen bzw. städtischen Arbeitern und Landproletariat auf der einen Seite, Bürgertum und Großbauern auf der anderen verhärten sich. Im Sommer und Herbst 1917 kommt es zu Gewaltakten und zur Aufstellung von Selbstverteidigungsgruppen beiderseits.
Bereits mit der Industrialisierung Finnlands im 19. Jahrhundert hatte eine Besinnung auf eigene sprachliche und kulturelle Wurzeln begonnen. Während der Zugehörigkeit zu Schweden bis 1809 hatten sich hierfür höchstens einige Universitätsgelehrte interessiert, aber nun breitete sich eine Fenno-Manie in alle Schichten der Gesellschaft aus. Der politische Sonderstatus Finnlands verstärkte das Gefühl, etwas Besonderes im Russischen Reich zu sein. Ausdruck hierfür waren lokale Selbstverwaltung, Parlamentarismus, wenn auch unter russischer Aufsicht, eigene militärische Einheiten, die Finnische Mark als eigene Währung und die Bildung politischer Parteien. Die politisch Verantwortlichen versuchten, die Grenzen auszuloten, wie weit Russland Selbstständigkeitsbestrebungen dulden würde; sie vermieden, den mächtigen Nachbarn herauszufordern. Die russischen Truppen im Land und die in Grenznähe gelegene russische Hauptstadt waren eine latente Erinnerung, den Bogen nicht zu überspannen.
Eine Vereinheitlichungskampagne in den 1888er Jahren, die alle Teile des riesigen Russischen Reiches enger zusammenbinden sollte, wurde in Finnland als Beginn einer Russifizierung gewertet. Es kam zu Streiks und Demonstrationen. Im Gefolge des für Russland mit einer schmählichen Niederlage endenden Krieges gegen Japan musste Zar Nikolaus II. einlenken. 1907 gestattete er erstmals Wahlen zu einem finnischen Parlament, an dem alle Bürger über 24 Jahre teilnehmen konnten, auch Frauen. Finnland war damit das erste europäische Land mit Frauenwahlrecht. Die folgenden Jahre trugen entscheidend zur Konsolidierung der Zivilgesellschaft mit weitaus größerer Meinungsfreiheiten als in Russland selbst bei. Lenin profitierte bekanntlich davon, als er im Sommer 1917 nach Finnland flüchtete und hier seine Revolutionsthesen verfasste. Die Sozialdemokratie entwickelte sich zur stärksten politischen Kraft. Sie erreichte 1916 absolute Parlamentsmehrheit, was jedoch die Zusammensetzung der Regionalregierung nicht widerspiegelte.
Als das zaristische Regime erneut Maßnahmen zur »Russifizierung« unternahm, verstärkte sich der politische Unmut in Finnland. Auf eigenen Beinen zu stehen und über die eigenen Belange selbst zu entscheiden, schien nicht mehr unmöglich. Manche Finnen blickten nach Schweden oder Deutschland, in der Hoffnung auf Unterstützung.
Nach der Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 wurde zunächst einmal die beschnittene Autonomie wiederhergestellt. Die Abgeordneten des finnische Reichstag hegten jedoch weitreichendere Veränderungen, als die russische Duma im Sinne hatte. Sie wollten die Oberherrschaft Russlands nur noch für die Außen- und Sicherheitspolitik gelten lassen. Ihr Problem jedoch: 100 000 russische Soldaten in Finnland, eigentlich als Wehr gegen deutsche Landungsversuche gedacht, hätten jeden Aufstandsversuch niederkämpfen können. Andererseits ließen die Auflösungstendenzen in der russischen Armee hoffen.
Als politische Alternativen für das Land standen sich die konservative Konzeption einer konstitutionellen Monarchie nach britischem oder deutschem Vorbild und die Sozialdemokratie gegenüber, die mit einer sozialistischen Revolution liebäugelte. Keine der Seiten war an einem Kompromiss interessiert. In der Sozialdemokratischen Partei Finnlands konnte sich der spartakistische Flügel gegen den zentristischen durchsetzen und im Herbst 1917 führenden Positionen übernehmen. Dessen Protagonisten forderten nicht nur die Unabhängigkeit des Landes, sondern auch den Achtstundentag, Nationalisierungen und Sozialismus. Ideologische Unterstützung erhielten sie vom Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat. Die Option, dass es auch in Finnland zu einer Revolution wie im Oktober/November in Russland kommen könnte, ließ die bürgerlichen Politiker nun intensiv nach Mitteln und Wegen der Abwehr suchen.
Beide Seiten bildeten militärische Garden und versuchten, sich für diese möglichst viele Waffen aus russischen Beständen zu sichern. Das Land schwankte zwischen Machtvakuum und Doppelherrschaft. Am 6. Dezember 1917 machte die bürgerliche Mehrheit des Reichstages Tabula rasa und beschloss die Unabhängigkeit Finnlands. Da Helsinki und andere große Städte im Süden des Landes im Machtbereich der Roten Garden lagen, erfolgte die Unabhängigkeitserklärung in der westfinnischen Stadt Vaasa, die für zehn Wochen als Hauptstadt fungierte.
Die bürgerlichen Parteien wie die Sozialdemokraten sandten Delegationen nach Petrograd, um die Anerkennung der Souveränität Finnlands zu erreichen. Am 31. Dezember unterschrieb Lenin das entsprechende Dokument. Von nun an ging es Schlag auf Schlag, im wahrsten Sinne des Wortes. Das bürgerliche Parlament erklärte den Ausnahmezustand, der vormals zaristische General Carl Gustaf Mannerheim wurde zum Oberbefehlshaber der finnischen Armee ernannt, die sich aus den Weißen Garden rekrutierte, denen vornehmlich Bürgersöhne und Großbauern angehörten. Die Sozialdemokraten wollten sich nicht mit einer bürgerlichen Republik zufriedengeben und riefen am 28. Januar 1918 in Helsinki die Finnische Sozialistische Arbeiterrepublik aus. Ihr bewaffneter Arm waren die vor allem aus städtischen Arbeitern und landlosen Bauern sich zusammensetzenden Roten Garden. Sie waren, trotz Unterstützung der Bolschewiki und einiger von der Roten Armee delegierten Berater und Ausbilder, hinsichtlich Ausrüstung, militärischer Disziplin und Erfahrung der finnischen Armee unterlegen, deren Kern die sogenannten Jäger bildeten, die seit 1916 in Deutschland ausgebildet wurden und bereits an der baltischen Front gekämpft hatten. So wurden trotz anfänglicher Erfolge die Roten Garden von Mannerheims Truppen sukzessive zurückgedrängt. Eine richtige Front gab es nicht. Gekämpft wurde vor allem um die Eisenbahnstrecken. Mit der Landung deutscher Truppen und deren Eingreifen auf Seiten der bürgerlichen Republik verschlechterte sich die Lage der Rotgardisten. Nach einigen Wochen lokaler Scharmützel brachte die Schlacht von Tampere im März 1918 eine Entscheidung. Auch die letzte Schlacht bei Viipur (Viborg) verloren die Roten Garden.
Der Bürgerkrieg in Finnland kostete auf Seiten der Weißen etwa 3500 und auf Seiten der Roten 5700 Mann das Leben. Bei willkürlichen Exekutionen und Massakern starben noch einmal 10 000 Menschen.
Der Bürgerkrieg riss tiefe Wunden in die finnische Seele. Zeitweise waren 80 000 Menschen - rote Soldaten wie ihre Sympathisanten und Familienangehörigen - in Lagern zusammengepfercht. Geschätzte 12 500 von ihnen starben an Unterernährung und Krankheiten. Obwohl ein Nebenkriegsschauplatz im Ersten Weltkrieg, war der finnische Bürgerkrieg mit aller Härte geführt worden. Der Aussöhnungsprozess zwischen den verfeindeten Lagern währte über 20 Jahre und wurde erst möglich durch politische Kompromisse und in der Atmosphäre eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Seine Früchte zeigten sich während des sowjetisch-finnischen Winterkrieges 1939/40. Nur eine verschwindend kleine Minderheit der Finnen betrachtete die Rote Armee als Befreier, während die Soldaten ungeachtet ihrer sozialen Herkunft Schulter an Schulter gegen diese kämpften.
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