Die alten Knochen und das Lebensalter
Historische Skelettfunde helfen modernen Rechtsmedizinern bei der Identifizierung von Opfern. Von Andreas Knudsen
Kriminalisten werden bei Morduntersuchungen immer wieder mit Skelettfunden unbekannter Personen konfrontiert, die es zu identifizieren gilt. Bisher vermochten die Rechtsmediziner, die an diesen schwierigen Aufklärungen beteiligt waren, das Alter der Opfer meist nur grob zu bestimmen. Doch eine Altersangabe »zwischen 40 und 70« macht die zielgerichtete Suche in der Vermisstenkartei ziemlich schwierig.
Deshalb beauftragte das amerikanische Justizministerium eine internationale Forschergruppe, Merkmale des Lebensalters anhand von Knochenuntersuchungen genauer herauszuarbeiten. Die Gruppe untersuchte Skelettsammlungen aus dem US-amerikanischen Knoxville, dem südafrikanischen Pretoria, dem thailändischen Chiang Mai und dem portugiesischem Coimbra. Federführend war dabei die PennState University in den USA. Nach dem Studium von 1700 Skeletten von Personen, deren Alter zum Todeszeitpunkt bekannt war, erarbeiteten die Forscher eine Liste von 60 Merkmalen, an denen Veränderungen über die Jahrzehnte abgelesen werden können. So fanden sie heraus, dass Knorpelbänder an den Rippen ab einem bestimmten Alter verknöchern. Anhand von drei Messpunkten eines fünf Zentimeter langen Stücks des Oberschenkelknochens kann das geübte Forscherauge nun auch herauslesen, ob das Alter der Person unter 35 Jahre, zwischen 35 und 45, 45 und 55 bzw. über 55 Jahre liegt. Diese und weitere Veränderungen wie Verknöcherungen oder Verschleiß an bestimmten Knochenstellen machen die Altersbestimmung wesentlich präziser. Gegenwärtig arbeitet die Forschergruppe daran, die verschiedenen Merkmale in ein Computerprogramm umzusetzen, das Rechtsmedizinern und Anthropologen es ermöglichen wird, anhand einiger Knochenteile eine Altersbestimmung durchzuführen. Es könnte auch bei Untersuchungen von Massengräbern, bei denen nicht alle Knochenfunde eindeutig zu Skeletten zusammengesetzt werden können, hinzugezogen werden, um eine Altersbestimmung der Gruppe durchführen zu können.
Einer der beteiligten Forscher war der dänische Anthropologe Peter Tarp. Sein Arbeitsgebiet ist eigentlich die Untersuchung historischer Skelettfunde, die bei Ausgrabungen gefunden werden. Gelegentlich wird er jedoch auch zur Aufklärung von Kriminalfällen hinzugezogen. Sein Arbeitsplatz ist die Skelettbibliothek der Süddänischen Universität. Dort werden 17 000 Skelettfunde aus Dänemark aufbewahrt - reichhaltiges Material für vergleichende Untersuchungen. All diese Skelette wurden bei archäologischen Ausgrabungen gefunden. Die ältesten stammen aus der Bronzezeit, die jüngsten von Friedhöfen aus dem 18. Jahrhundert. Das gibt eine einzigartige Möglichkeit, Lebensalter, physischen Verschleiß und Krankheitsbilder über die Jahrhunderte und Jahrtausende abzulesen und zu vergleichen. Besonders wertvoll ist hierbei eine Sammlung von 1400 Skeletten, die aus dem süddänischen Ribe (Ripern) stammt. Die Knochenfunde überspannen einen Zeitraum von der Ära der Wikinger bis in die Neuzeit. Diese Kontinuität der Funde ist selten und vielleicht sogar einzigartig in der Welt.
Mit dem neugewonnenen Wissen zur Altersbestimmung anhand von Skelettuntersuchungen konnten die dänischen Forscher die langgehegte Vermutung bestätigen, dass die Lebenserwartung bis in das Mittelalter im Bevölkerungsdurchschnitt deutlich unter 50 Jahre lag. »Es war kein großer Unterschied zwischen den Wikingern vor der Jahrtausendwende und den Dänen des Mittelalters. Wir können jetzt aber mit Bestimmtheit sagen, dass die Lebenserwartung seit dem 16. Jahrhundert ansteigt«, so Tarp. Als Ursache führt der Wissenschaftler einen Mix aus verbesserter Ernährung, höherem Lebensstandard und größerem medizinischem Wissen, das zu wirksameren Therapien führte, an. Der Zeitpunkt, zu dem diese Veränderungen durchschlugen, kann in etwa auf die Reformationszeit festgelegt werden.
Von da an - so ein weiteres Ergebnis für die untersuchten dänischen Knochen - begann auch die Lebenserwartung der Frauen über die der Männer zu steigen: von durchschnittlich 37 auf immerhin 43 Jahre. Wenige Veränderungen gab es über eine lange Periode bei den Todesursachen. Bis zum Durchbruch der modernen Medizin im 20. Jahrhundert starben die Menschen vorzugsweise an Infektionserkrankungen: Lungenentzündung, Masern, Röteln, Tuberkulose und im Mittelalter auch an Pest. Auch die Kindersterblichkeit verblieb über die Generationen hinweg auf gleichbleibend hohem Niveau.
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