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  • Heinz Florian Oertel wird 90

Weltmann im Winkel

An diesem Montag wird die DDR-Sportreporter-Legende Heinz Florian Oertel 90 Jahre alt. Eine Huldigung

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie protokollieren exakt die Ergebnisse. Sie können Hauptsätze bilden, die sich ordentlich zum Bericht fügen. Gemeint ist ein gängiger Typus von Sportreportern. Sie schreiben oder sprechen, als gelte es unumstößlich, den Ball niedrig zu halten. Heinz Florian Oertel aber war Sportreporter einer ganz entgegengesetzten Art. Eigen, eitel, expressiv, extravagant, eisern lustvoll. Einmalig. Schausteller und sprachversessen. An ihn musste ich denken, als 2014 bei der Fußball-WM der Kolumbianer James Rodriguez den Ball mit der Brust annahm, eine halbe Drehung vollführte und dann volley mit dem linken Fuß das 1:0 unter die Latte des US-Tores jagte - ein Rundfunkreporter aus Bogotá jubelte: »Ein Gemälde wie von Picasso!« Völlig schief, dieser Vergleich, total maßlos. Aber doch ikonisch, dieser Satz, und besagte Maßlosigkeit: schön, beglückend.

Picasso!? Ja! Solche Übertreibung, solche Verstiegenheit muss sein. Tanz über Rasenspitzen: die Oberfläche zwar Fußball, der Untergrund aber Kunst. Das Picasso-Paradebeispiel hätte von Oertel sein können. Dem rhetorischen Latino aus der Lausitz. Einer unter Strom. Die Steckdose immer irgendwo außerhalb der Realität. Bei Oertel klang das so: »Liebe junge Väter vielleicht oder angehende, haben Sie Mut: Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar!« Der berühmteste Satz aus der Live-Reportage, als Waldemar Cierpinski 1980 in Moskau zum zweiten Mal Marathon-Olympiasieger wurde.

1927 wird Oertel in Cottbus geboren, gerät als Matrose in britische Kriegsgefangenschaft. Schnellkurse prägen damals den Weg in den Frieden: Schauspieler, Lehrer, Reporter. Der Jungpädagoge im sportiven Späteinsatz: Er darf die letzten Minuten des brandenburgischen Frauenhandball-Finals zwischen Luckenwalde und Jüterbog übertragen. Es fällt leider nur ein einziges Tor, aber ausgerechnet das bekommt der ungeübte Chronist am Mikrofon nicht mit. Wir wissen: Aus solchen trüben Erfahrungen erwächst oft genug eine reporterische Grundtechnik - fortan gefälligst schneller als das Leben zu sein. Erst schneller, dann schlauer. So kam, wir wissen auch dies, ein journalistischer Berufsmakel in die Welt: die elende Bescheidwisserei. Der Sport gilt seit jeher als eine Insel, die vor dieser Vernutzung in Leitartikelmühlen, vor diesem Leben als »Meinungssoldat« (Martin Walser) im Dauerfeuer-Einsatz rettet.

Jene Nachkriegszeit besagter Schnellkurse und überraschender Aufstiege bescherte dem Osten einen Star. Ohne viele Umwege. Oertel wird ab 1952 Kommentator nahezu aller internationalen Sporthöhepunkte. Erlebt acht Fußball-Weltmeisterschaften. Ist 17 mal »DDR-Fernsehliebling«. Moderiert den »Kessel Buntes«, führt durch TV-Schlagershows und die populäre Radiosendung »He, he, he - Sport an der Spree«. Über 250 mal heißt es in Adlershof: »Porträt per Telefon« - Oertel als Talk-Gastgeber. Ein Allrounder. Ein Generalist: überall tonangebend, Thema gleichgültig. Wie ein vorweggenommener Gysi. Ein Versuchs-Enthusiast im Sinne des Handwerkers Zettel aus dem »Sommernachtstraum« von Shakespeare: »Lasst mich den Löwen auch noch spielen.«

Das alles bis zum 31. Dezember 1991: Im Berliner Rundfunk, 18 Uhr, liest er letztmals die Sportnachrichten. Abpfiff ohne Verlängerung. Von der Hochleistung ins Gemütstief. Aber er wird Bücher schreiben, »Pfui Teufel«, »Gott sei Dank«, »Halleluja für Heuchler« - Pamphlete gegen die Moral- und Sprachversagen einer effizienzgierigen Gesellschaft.

Die »Süddeutsche Zeitung« nannte ihn den »Heribert Fassbender der DDR«, der »Spiegel« sprach vom »Harry Valérien des Ostens«. Solche Vergleiche erzählen noch dort, wo sie anerkennend sein wollen, von den Anmaßungen westlicher Deutungshoheit. Oertel ist kein Werner Hansch oder Herbert Zimmermann für Arme, er bleibt ein Original! In den ungelenken Jahren des Ostfernsehens ein Pionier der Leichtigkeit. Im Festgezurrten des ideologischen Palavers ein Tänzelnder. Im Disziplinkorsett der Parteijournalisten ein Entfesselungskünstler. Im Bienenfleiß der Genossen ein genießender Bajazzo.

Wir wissen nicht, wann genau der Sport seine Unschuld verlor, wahrscheinlich warfen Glanz und Elend, Show und Schande einander immer schon die Bälle zu, in jeder Gesellschaft - aber Oertels Zeit war noch halbwegs eine Ära jenseits der Krisen, die inzwischen alle Liebe zum Sport so tief und so unverschämt offen verletzt haben: FIFA-Skandal, Triumph des Geldes. Der französische Schriftsteller Jean-Philippe Touissant schrieb über das Sportfeuilleton: »Es heißt, ab und zu in einem nicht bescheidenen, aber kleinen Akt des Widerstands ein Zeichen zu setzen - das wie ein Glühwürmchen einen geringen, fast nutzlosen Schimmer in die Nacht aussendet.« Wenn Worte Glühwürmchen sind, dann war Oertel ein Glühwürmchen-Ballettmeister. Pathos und Predigt, ein bisschen Kunst und manchmal zu viel Kitsch. Ja und? Was ist gegen den Kitsch zu sagen, er offenbart »nur« ein übersteigertes Gefühl, und Steigerung ist das Gegenteil von ebenmäßiger Lappigkeit; wer übers Ziel hinausschießt, hatte immerhin eines; auch schiefe Bilder sind bildende Kunst - und wer Worte drechselt, hält die Erinnerung an einen ehrbaren Beruf wach, der nach gutem Holz riecht. Holz, aus dem nur die Besten geschnitzt sind.

Er hat sie boxen, schießen, laufen, springen sehen. Teofilo Stevenson und Manfred Wolke, Pelé und Johan Cruyff, Lasse Viren und Carl Lewis, Bob Beamon und Ingrid Krämer-Gulbin. Das WM-Finale 1958 nannte er »das beste Fußballspiel, das ich jemals erlebte«, und Katharina Witts »Carmen« auf dem Eis löste im stets so unverwandt Beredten nur einen einzigen, freilich unerfüllbaren Seltenheitswunsch aus: »schweigen, schweigen, schweigen«. Sein erstes frühes Buch hieß: »Mit dem Sportmikrofon um die Welt«. Der Reporter als Projektion für die unerfüllbaren Sehnsüchte von Millionen DDR-Menschen am Radioapparat, später vorm Fernseher. Er war unser aller Stellvertreter-Marco-Polo. Seine Beliebtheit bildete seinen Streitwert: Alle sind für einen (oder aus Neid gegen den einen!), weil dieser Eine für alle die Kontinente betritt. Also betreten darf, was anderen versagt bleibt. Oertel: ein Idol übrigens auch von Rudi Dutschke, der ebenfalls Sportreporter werden wollte.

Oertel sah im Sport (wohin er wollte) eine Alternative zum Krieg (wo er herkam). Es wuchsen die pralle Blumigkeit, der schwingende, brummende, summende, vokalsatte und »r«-rollende Ton Oertels aus des Reporters Begeisterung für Frieden und Freundlichkeit. Sport: Kampf, ja, aber eben auf Spiel-, nicht auf Schlachtfeldern. Spiel darf fast alles. Spiel ist eine Erlaubnis, die von der Romantik ausgestellt wird: Mag das Leben entgeistert glotzen - wir schauen trotzdem so auf den Rasen und auf die Aschenbahnen, als gäbe es noch eine Welt woanders. Spiel-Erlebnisse funktionieren nicht, wenn ich mir dabei ständig vorwurfsvoll ins Gemüt falle: Vergiss die Vernunft nicht! Doch, vergiss sie, mitunter wenigstens!

An ihm schieden sich die Geister. Er polarisierte, auch mit Patriotismus - ja, der Plauderer war immer auch Propagandist. Ein parlierender Pädagoge. Botschafter ersten Grades inmitten all der sportiven »Diplomaten im Trainingsanzug«. Nach dem Ende des Staates traf auch ihn die Erfahrung aller Zeitenwechsel: Es wollen plötzlich weit weniger gejubelt haben, als man eben noch ohrenbetäubend hörte. Aber Oertel verwandelte seine Verwunderung (wohl auch Verletztheit) darüber nie in Bitternis, nicht in jene grobfleischige Kampfnostalgie, die sich noch im neuen Deutschland in alte kalte Kriege hineinschnodderte. Das hatte er schlichtweg nicht nötig. Stil bleibt Stil.

Er verfasste sein Berufsleben lang Kolumnen in der »Lausitzer Rundschau«, in der »Berliner Zeitung«, in der »BZ am Abend«. Journalismus als leidenschaftliche Eroberungslust, die nach jedem freien Raum griff. Er beeindruckte mit Präsenz, was immer auch hieß: Seine Eigenart nötigte andere dazu, ihr Mittelmaß zu gestehen. Er war der Kosmopolit im Küchensozialismus. Der Weltmann im Winkel. Der Conférencier im Parteisprachenkonvikt. Der den Berliner Neujahrslauf erfand und überhaupt ein beredter Anwalt des Breitensports war - was erfolgssüchtigen Hochfunktionären des Deutschen Turn- und Sportbundes damals nicht unbedingt gefiel.

Oertel ruhte aus einsichtigen Gründen im Selbstbewusstsein des außergewöhnlichen, des vom Glück besonnten Charakters. Besonntheit durch Besonderheit. »Man möchte sich an den Zeiger der Geschichte hängen, um die Uhren anzuhalten!« So Oertels Jubelruf, als Waldemar Cierpinski 1976 zum ersten Mal Marathon-Olympiasieger wird. Die Zeiger der Uhren lassen sich aber von keinem Lebens-Lauf überholen, bremsen, aufhalten gar. Aber Erinnerung feiert beseelende Siege. An diesem Montag wird der große Heinz Florian Oertel 90 Jahre alt.

Eine Buch mit Anekdoten, Kommentaren und Bonmots von Heinz Florian Oertel erscheint demnächst unter dem Titel »Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer« (Verlag Neues Leben, 160 S., br., 9,99 €). Ihm sind die nebenstehenden Zitate entnommen.

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