Dem Affen Zucker geben
Die Größe des frühen Kinos: In einer Retrospektive im Kino Arsenal werden Filme von Ernst Lubitsch gezeigt
Das Kino gehört zu den seltenen Wesen, die groß auf die Welt kommen und dann immer kleiner werden. Als es noch jung und groß war, war es auch proletarisch, ungezogen, lästerlich, wild und witzig. Einer seiner Meister hieß Ernst Lubitsch. Und Lubitsch trug die Größe des frühen Kinos noch weit in die Tonfilmzeit hinein. Einige seiner Meisterwerke sind gerade in Berlin zu sehen.
Proletarisches Kino heißt nicht, dass unentwegt Proletarier zu sehen sind. Aber es heißt, dass die Oberklasse von unten betrachtet wird, wie in der »Austernprinzessin« von 1919 (Vorführung am 30.1.). Es ist keine Parodie auf die Plutokratie, sondern auf die Fantasien, die der Kinogänger von ihr hat. Die von Ossi Oswalda gespielte Milliardärstochter wirkt nicht im Geringsten wie eine höhere Tochter, sondern wie eine Berliner Göre, die Spaß haben will. Sie hat nicht eine, nicht zwei Kammerdienerinnen, sondern so viele wie der alte Ziegfeld Follies. Und sie will jetzt aber augenblicklich einen Prinzen zum Mann! Sechzig fulminante Minuten beginnen, keine deutsche Komödie der letzten fünfzig Jahre kann sich mit ihnen messen.
Im selben Jahr 1919 beweist Lubitsch, dass er auch ein völlig anderes Genre beherrscht. Mit »Madame Dubarry« (17.1.) dreht er einen monumentalen Ausstattungsfilm, seinen ersten Welterfolg. Die kleine Modistin, gespielt von Pola Negri, die zur Favoritin des alten König Ludwig wird, verbindet der Wunsch mit der Austernprinzessin, es zu etwas zu bringen. Her mit den Prinzen! Es ist ein Wunsch, mit dem Lubitsch, selbst aus einfachen Verhältnissen, gerade bei seinen weiblichen Figuren immer sympathisiert hat. Trotz aller Monumentalität gibt er in diesem Film einen Vorgeschmack auf die Kammerspiele, die er in den USA drehen wird; etwa in der brillant konstruierten Szene, in der die künftige Dubarry sich hinter einem Paravent versteckt und der Graf Dubarry sie in einem Spiegel entdeckt.
Dass in »Madame Dubarry« die Revolutionäre abfällig dargestellt würden, wie die bürgerliche Kritik seit bald 100 Jahren zu behaupten nicht müde wird, ist erkennbar Projektion. Freilich ist die Revolution kein Kaffeekränzchen, und Lubitsch neigt nirgendwo zur Sentimentalität. Es stimmt auch nicht, dass, wie Siegfried Kracauer behauptet, Lubitsch es versäumt hätte, »die revolutionären Ereignisse auf ihre ökonomischen und ideellen Ursachen zurückzuführen«. Ein Melodram ist kein Lehrfilm, aber die Auspressung der Unterklasse wird durchaus gezeigt, und daran, dass der Graf Dubarry - angemessen brutal dargestellt von dem späteren »Nathan« der DDR, Eduard von Winterstein - der Zuhälter der künftigen Mätresse ist, lässt der Film nicht den geringsten Zweifel. Wenn die Zuhälterei keine »ökonomische Ursache« ist, hat sie doch notwendigerweise eine.
»Madame Dubarry« macht Mary Pickford, damals die größte, heute - wenn es diesen Superlativ gäbe - die vergessenste Frau des Kinos, auf Lubitsch aufmerksam. Sie holt ihn nach Hollywood, doch er findet sie kalt und sie ihn vulgär. Ihr gemeinsamer Film »Rosita« (1923) ist besser als sein Ruf, aber zeigt Pickford nicht auf ihrer Höhe. Trotz der Reibereien hält sie ihn, wie ein Brief belegt, auch nach den Dreharbeiten noch für »den größten Regisseur der Welt«. Zu seinem Stil findet er aber erst mit seinem nächsten Film, der Alfred Hitchcock die Idee von der »Suspense« (der Zuschauer weiß, was der Protagonist nicht weiß) eingibt: »Die Ehe im Kreise« (1924), die unbegreiflicherweise nicht zur Berliner Retrospektive gehört.
Wie entscheidend »Die Ehe im Kreise« ist, beweist, neben sehr vielem anderen, »So ist Paris« (1926; zu sehen am 11.1.), ein wiederum mit demselben Hauptdarsteller, Monte Blue, besetztes, wiederum bis in die Gesten und Requisiten durchdachtes Bäumchen-wechsle-dich-Spiel. Wo in der »Austernprinzessin« eine »Foxtrott-Epidemie« ausbricht, bricht hier, in rauschhaften, sich überlagernden und rotierenden Bildern, eine »Charleston-Epidemie« aus. Lubitsch hat von jeher ein materialistisches Verhältnis zu Genuss und Trieb, in den USA wird er ihm lediglich subtiler gerecht.
Die berühmten Tonfilme, die folgen, »Ärger im Paradies« (1932), »Ninotchka« (1939), »Sein oder Nichtsein« (1942; am 4.1. mit einer Einführung von Peter Nau und am 20.1.) oder »Ein himmlischer Sünder« (1943), hat hoffentlich jeder schon einmal im Fernsehen gesehen. Eine Entdeckung ist Lubitschs letzter Film, »Cluny Brown« von 1946 (6.1. und 30.1.). Er ist nicht nur eine Satire auf die britische Klassengesellschaft und ihre Verkennung der nazistischen Gefahr 1939, er ist auch eine weitere Abwandlung auf ein Thema Lubitschs: die Frau, die, gegen alle Widerstände, ihre Chancen in der Gesellschaft sucht.
Diese Frau, Cluny Brown, agiert zwar handfest wie die Austernprinzessin, die Dubarry und viele andere - Cluny hat eine Vorliebe für die Klempnerei, die in einer verstopften Gesellschaft eine überraschend symbolische Dimension hinzugewinnt -, doch anders als fast alle anderen Heldinnen von Lubitschs Filmen ist sie verträumt und geht schlafwandlerisch durch die Welt. Jennifer Jones nimmt als Cluny bereits ihren unvergesslichen Auftritt in William Dieterles »Jenny« (1948) vorweg. Charles Boyer ist ebenso kühl und abgehoben wie viele andere Liebhaber bei Lubitsch, verfügt jedoch zugleich über eine Weisheit, die diesen exzellent geschriebenen Film zum idealen Schlusspunkt macht. Seine Moral ist in einem unübersetzbaren Wortspiel wiedergegeben. Es gelte nicht nur, die Eichhörnchen zu füttern (»feed nuts to the squirrels«), also der Gesellschaft zu geben, was sie verlangt, sondern auch, dem Affen Zucker zu geben (»feed squirrels to the nuts«). In einer irren Gesellschaft lebt am besten, wer noch irrer ist als sie. Gerade »Cluny Brown« macht deutlich, wie politisch der Wunsch ist, glücklich sein zu wollen.
Retrospektive Ernst Lubitsch. Kino Arsenal, Potsdamer Platz, noch bis zum 31.1. Die Filme werden in Originalfassungen gezeigt.
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