- Kultur
- Kabarettistischer Jahresrückblick im Mehringhoftheater
Mit dem Schuhlöffel gearbeitet
Der Kabarettistische Jahresrückblick spielt dieser Tage wieder sein »Jahresendzeitprogramm« und feiert sein 20-jähriges Jubiläum
Wie ist das eigentlich mit den sogenannten alternativen Fakten? Früher, da gab es nur Fakten, während es seit diesem Jahr, insbesondere seit Beginn der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA, plötzlich »alternative Fakten« zu geben scheint. Was hat es nur damit auf sich? Horst Evers, seines Zeichens Kabarettist und Autor zahlreicher Bücher komischen Inhalts, klärt das anwesende Publikum schließlich auf: Was etwa den seit Jahren kursierenden »alternativen Fakt« »Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg« angehe, so Evers, habe er nach wiederholtem gründlichen Faktencheck, eingehender Recherche und peinlich genauem Prüfen sämtlicher zur Verfügung stehenden Informationen feststellen müssen, dass es tatsächlich erstaunlicherweise in nahezu allen im Nachhinein noch einmal begutachteten Fällen (Baukonzern Holzmann, Drogeriekette Schlecker, Siemens-Werk Görlitz u.v.a.m.) so gewesen ist, dass es die Arbeitgeber waren, die den Deutschen die Arbeitsplätze weggenommen haben. »Nur im Profisport, da mag die Sache mit den Ausländern stimmen.«
Der Bestsellerautor Evers, in den dafür vorgesehenen Momenten wie immer eindrucksvoll die Augen rollend und auf der Bühne traditionell mit dunkler Hose und rotem Hemd bekleidet, gehört zur Stammbesetzung des alljährlich im Dezember und Januar in der Hauptstadt stattfindenden Kabarettistischen Jahresrückblicks, der schon lange eine Berliner Institution ist. Dieses Jahr feiert das Quintett sein 20-jähriges Jubiläum. Horst Evers und der Schriftsteller Bov Bjerg, den sein vielgelobter Roman »Auerhaus« im vorvergangenen Jahr auch zum Bestsellerautor gemacht hat, kennen sich bereits seit einer Ewigkeit. Vor nahezu drei Jahrzehnten haben sie Berlins erste Lesebühne gegründet, »Dr. Seltsams Frühschoppen«.
Gemeinsam mit den beiden Schauspielern und Kabarettisten Christoph Jungmann und Hannes Heesch und dem Berliner Liedermacher Manfred Maurenbrecher veranstalten sie seit 1997 im kleinen linken Kreuzberger Mehringhoftheater eine vergnügliche Jahresendshow, bei der man noch einmal die politischen Ereignisse und Figuren des vergangenen Jahres Revue passieren lässt und in der unbekümmert politisches Kabarett, satirische Texte, Impro-Theater und melancholisches Liedgut zusammengemischt werden. Heesch und Jungmann, beide erfahrene Theatersportler und Rampensäue, die keinerlei Scheu zeigen, intensiven Kontakt mit einem amüsierwütigen Publikum zu pflegen, schlüpfen dabei in die Rollen zahlreicher Politiker (Merkel, Gauck, Gauland, Lindner, Trump); Evers und Bjerg tragen satirische Texte vor, in denen zentrale Ereignisse des Jahres aufgegriffen werden, und am Klavier sorgt Maurenbrecher für die musikalische Untermalung und steuert im Lauf des Abends zwei eher der Nachdenklichkeit als dem Ulk verpflichtete Chansons bei. Anfangs, also vor 20 Jahren, wollte diese zunächst etwas disparat wirkende Mixtur aus Lesebühnenkram, Liedermacherei, Jux, Comedy und traditionellem Politkabarett nur eine Handvoll Leute sehen, heute dagegen sind die mittlerweile über 50 Vorstellungen, die stets zur Jahreswende in Berlin absolviert werden, im Handumdrehen ausverkauft. Und was die Bestuhlung im engen Mehringhoftheater angeht, wird spürbar mit dem Schuhlöffel gearbeitet: Wer das Pech hat, zwischen zwei eher fülligen Personen zu sitzen, könnte Atemnot bekommen.
Durch den Abend führt, wie immer die letzten Jahre, eine mal besonnene, mal aufgekratzte Angela Merkel (Jungmann). Themen sind etwa der Einzug der AfD-Neonazis in den Bundestag, das Ende der alten Volksbühne, wie wir sie kennen, der sich für eine Art Wiedergeburt Luthers haltende Ex-Bundespräsident Gauck, der die Öffentlichkeit auch nach Ende seiner Amtszeit weiter mit seiner beängstigenden Selbstgefälligkeit penetriert, oder die dämliche Kritik von Journalisten an Merkels vermeintlich wenig femininem Kleidungsstil (Jungmann alias Merkel: »Ich erinnere mich nicht, dass meine männlichen Kollegen je für ihre Anzüge kritisiert wurden«).
Einmal geht es auch um das umstrittene Gedicht Eugen Gomringers (»Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer«), das eine Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule ziert und dessen Entfernung von Studierenden und anderen Beamten, die von einem Tag auf den anderen den Lyrik-Experten in sich entdeckt haben, verlangt wurde. Bov Bjerg hat es geringfügig umgedichtet. Dabei herausgekommen ist ein »Gedicht, das auf relativ hohem Niveau den Öffentlichen Personennahverkehr in Berlin reflektiert«. Es geht so: »Straßenbahn / Straßenbahn und U-Bahn / U-Bahn / U-Bahn und S-Bahn / Straßenbahn / Straßenbahn und S-Bahn / Straßenbahn und U-Bahn und S-Bahn und / Schienenersatzverkehr«.
Die Vorstellungen bis Ende des Jahres im Mehringhoftheater sind ausverkauft. Karten gibt es nur noch für die Vorstellungen vom 4. bis zum 14.1. im Theater am Kurfürstendamm.
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