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Kitt für eine soziale Stadt
Der Senat hat die Richtlinie AV Wohnen angepasst. Für Ärmere bringt sie Verbesserungen
Was regelt die Richtlinie im Einzelnen?
Die Richtlinie Aufwendungenverordnung Wohnen (AV Wohnen) bestimmt, welche Kosten für die Unterkunft und Heizung das Jobcenter oder das Sozialamt übernehmen. Grundlage hierfür ist das Sozialgesetzbuch - das Zweite Buch für Hartz-IV-Leistungen und das Zwölfte Buch für Sozialhilfeempfänger. Der Senat hat die Richtlinie im vergangenen Jahr überarbeitet, hierbei wurden die Richtwerte für Bruttokaltmieten angehoben und zahlreiche Rahmenbedingungen erneuert. Die neuen Regelungen gelten seit 1. Januar.
In welchem Umfang sind die Richtwerte gestiegen?
Die Kosten, die Jobcenter und Sozialamt übernehmen, sind um sieben bis 17 Prozent angehoben worden. Für eine Person betrachtet das Amt beispielsweise jetzt eine bis zu 50 Quadratmeter große Wohnung als angemessen und übernimmt eine Bruttokaltmiete von 404 Euro. Bisher lag der Richtwert bei 364,50 Euro. Bei einem Drei-Personen-Haushalt zahlt das Amt eine Bruttokaltmiete von 604 Euro (bisher 518,25 Euro). Neu in die Richtwertetabelle aufgenommen hat der Senat eine Alleinerziehende mit einem Kind, für die 65 Quadratmeter als angemessen gelten und 491,40 Euro übernommen werden. Die Anhebung der Richtsätze der AV Wohnen kommt damit der Lebenswirklichkeit vieler Einkommensschwacher näher. Für die wird es nämlich immer schwerer, Wohnungen zu finden, die sie sich leisten können.
Wie viele Menschen sind von der Richtlinie betroffen?
In Berlin gab es im Juni 2017 rund 273 000 Bedarfsgemeinschaften - Einzelpersonen und Familien, für die das Amt Kosten für Unterkunft und Heizung übernimmt -, oft aber nicht vollständig, weil ihre tatsächlichen Mieten über den Richtwerten liegen. Zuletzt war dies bei rund 132 000 Bedarfsgemeinschaften der Fall. Die Senatsverwaltung für Soziales geht davon aus, dass mit den neuen Richtwerten die Mieten von 86 000 Bedarfsgemeinschaften wieder angemessen bewertet werden: »Von diesen Verbesserungen profitieren ca. 18 000 Familien mit Kindern und 16 000 Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kindern.«
Grundlegende Zustimmung für die Richtlinie gibt es vom Berliner Mieterverein. Allerdings sieht er weiteren Handlungsbedarf. Er bemängelt nämlich, dass mit der Anpassung noch immer 46 000 Bedarfsgemeinschaften unter Druck geraten, weil ihre Mieten nach wie vor die Richtwerte überschreiten.
Welche Auswirkungen kann dies für die Betroffenen haben?
»Viele Menschen müssen sich ihre Miete buchstäblich vom Munde absparen«, beschrieb Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) die Situation von Betroffenen, denen das Amt nicht die gesamte Miete übernimmt. Sie müssen die Differenz von ihrer Hilfe für den Lebensunterhalt bezahlen. Doch Leistungsempfänger können vom Amt auch dazu angehalten werden, sich eine neue Wohnung zu suchen.
Die Sozialverwaltung betont jedoch, dass es sich bei den Richtwerten um »abstrakte Angemessenheitsgrößen« handelt. Selbst wenn die Miete höher als der Richtwert sei, könne das Jobcenter auf eine Kostensenkung verzichten, beispielsweise bei Alleinerziehenden mit Kindern. »Hier haben die Jobcenter Spielräume, die sie im Sinne des sozialen Zusammenhalts der Stadt auch nutzen sollten«, appelliert die Verwaltung.
Ein Appell ist jedoch nur ein schwaches Instrument. Welche Möglichkeiten gibt es über diese allgemeinen Richtwerte hinaus, um Zwangsumzüge von Einkommensschwachen zu verhindern?
Der Senat hat mit einer Reihe von Zuschlägen ein doppeltes Netz installiert, um Betroffenen einen Verbleib in ihrem Wohnumfeld zu ermöglichen. So gibt es künftig einen Umzugsvermeidungszuschlag, wonach die Miete zehn Prozent über dem Richtwert der Bruttokaltmiete liegen darf. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung solle geprüft werden, ob ein Umzug auch tatsächlich wirtschaftlich sei, rechtfertigt die Senatsverwaltung diesen Bonus.
Zusätzlich gibt es Härtefallzuschläge in Höhe von zehn Prozent auf die Bruttokaltmiete - etwa für Schwangere oder Alleinerziehende. Auch die sozialen Bezüge von Bedarfsgemeinschaften können unter Umständen berücksichtigt werden, damit beispielsweise Kinder nicht durch einen Zwangsumzug aus ihrem sozialen Umfeld gerissen werden. Auch Menschen, die ihre Angehörigen in der Nachbarschaft pflegen, können davon profitieren. Zudem sieht die Richtlinie vor, Modernisierungszuschläge abzufedern. Sie werden vollständig übernommen, sofern die neue Bruttokaltmiete nicht 10 Prozent über dem Richtsatz liegt.
Kann die AV Wohnen mit den galoppierenden Mieten mithalten?
Der Senat passt die Richtlinie regelmäßig an. Eine Angleichung der Heizwerte erfolgt jährlich, sobald im Herbst der neue bundesweite Heizspiegel veröffentlicht wird. Die Anpassung der Mieten-Richtwerte orientiert sich am Berliner Mietspiegel, der alle zwei Jahre erscheint. Der Berliner Mieterverein kritisiert allerdings, dass die aktuellen Anpassungen erst sieben Monate nach Erscheinen des neuen Mietspiegels in Kraft getreten sind.
Hilft die Richtlinie auch Menschen auf Wohnungssuche?
Da Wohnraum in Berlin immer häufiger aufgewertet wird, werden Wohnungen in einfachen Wohnlagen knapp. Um Wohnungslosen oder von Wohnungslosigkeit Bedrohten mehr Chancen auf dem freien Markt zu verschaffen, darf ihre Bruttokaltmiete 20 Prozent über dem Richtwert liegen. Davon sollen insbesondere Frauen in Frauenhäusern, Menschen in Obdachlosenunterkünften oder Geflüchtete profitieren.
Die Flüchtlingsinitiative »Berlin hilft« begrüßt dieses Vorhaben. Sie sieht in der neuen AV Wohnen neben der Erhöhung der Richtwerte für Bruttokaltmieten eine Reihe weiterer Verbesserungen. Es fehle aber die Streichung der Klausel, die bei Untervermietungen keine Kautionszahlung vorsieht. Oftmals hilft das Jobcenter in solchen Fällen mit einem Darlehen aus. Unterm Strich werde die neue Richtlinie aber das tägliche Leben von Leistungsbeziehern verbessern, glaubt die Initiative. Insbesondere helfe sie, Unklarheiten zu beseitigen, die in der Vergangenheit zu vielen Auseinandersetzungen geführt hätten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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