Zeitenwende beim DIW
Ökonom Gert G. Wagner wird 65 und tritt ab
Als die Big Brother Awards 2011 vergeben wurden, geschah etwas, was bei Negativpreisen unüblich ist: Einer der Kritisierten, der Sozialwissenschaftler Gert G. Wagner, reiste nach Bielefeld, um sich der Diskussion zu stellen. Als Vorsitzenden der Zensuskommission der Regierung warf man ihm vor, für die Vollerfassung der Bürger verantwortlich zu sein. Wagner wollte, wie er sagte, »die Überwachungsunterstellung formvollendet zurückweisen«. Die gesammelten Datenmengen seien überschaubar, »sensible Persönlichkeitsprofile« würden nicht erstellt.
Auch sonst kennt der gebürtige Hesse, der an diesem Freitag seinen 65. Geburtstag feiert, kaum Berührungsängste und schätzt die inhaltliche Auseinandersetzung. Der habilitierte Ökonom, dem nd-Leser als langjähriger Kolumnist bekannt, gilt als umtriebig und uneitel, eigenständig und schwer in eine wirtschaftspolitische Schublade zu stecken. Immer wieder ist er für überraschende Positionen gut, etwa wenn er die Freigabe von Dopingmitteln oder die Umbenennung der Berliner Mohrenstraße fordert, wo sein langjähriger Arbeitgeber, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), seinen Sitz hat.
Das mag daran liegen, dass Wagner im empirischen Bereich tätig ist, sich mit den Sorgen und Wünschen der Bürger beschäftigt. Vor allem als Leiter des vom DIW durchgeführten Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) von 1989 bis 2011 machte er sich einen Namen. Die repräsentative Wiederholungsbefragung von über 12 000 Privathaushalten hilft bei der Analyse politischer und gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland. Unter Wagners Regie erwarb sie sich in der mikroanalytischen Forschung zu sozioökonomischen Fragen international eine wichtige Stellung. Die Forscher reagierten rasch auf gesellschaftliche Entwicklungen: Früh konnten sie Auskunft über die Stimmungslage der Ostdeutschen geben. Seit 2016 erhebt das SOEP zudem eine repräsentative Stichprobe von Flüchtlingen. »In Zeiten großer Verunsicherung fällt der Wissenschaft generell und der datenbasierten Analyse insbesondere eine Schlüsselrolle zu«, so Wagner.
Dem Renommee des Panels und seines Chefs war es wohl zu verdanken, dass das DIW die Krise nach der Ära des Chefs Klaus F. Zimmermann überstand, als Zweifel an der Leistungsfähigkeit aufkamen. Wagner wurde 2011 Präsident und führte das Institut erfolgreich durch die Evaluierung der Leibniz-Gemeinschaft, bevor er 2013 einfaches Vorstandsmitglied wurde. Diesen Posten gibt er mit 65 nun auf, auch als Professor an der TU Berlin wird er im April in den Ruhestand gehen. Er will aber weiterforschen, am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Das DIW verliert einen Wissenschaftler, der in fast allen wichtigen Gremien der Politikberatung vertreten war: Wagner leitet den Sozialbeirat der Bundesregierung und ist Mitglied des Sachverständigenrates für Verbraucherpolitik. Er war Chef des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten und gehörte der Wachstums-Enquetekommission des Bundestags an.
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