Biedermeierbilderbogen

»Gertrud« von Einar Schleef an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Einar Schleef: der sensible Koloss, der noch als erfolgreicher Regisseur von »Verratenes Volk« 2000 mit seinem Einkaufsbeutel ins Theater schlich. Der stotterte und einen roten Kopf bekam, wenn ihn jemand ansprach. Ein Jahr später blieb sein Herz plötzlich stehen.

Dieser scheue Mensch aber war auch ein Berserker, der maßlos wütend werden konnte. Als er 1976 die DDR im Zorn verließ, schrieb er in einem Brief ans Kulturministerium: »Ich will in der DDR leben und arbeiten, nicht vergammeln!« Im Westen litt er, weil er nicht wusste, auf welche Weise er hier fremd sein sollte. Die Fremdheit im Osten kannte er, die im Westen nicht. Man sagt von ihm, dass er die erste Zeit im Westen auf einer Bank im Bahnhof geschlafen habe, vielleicht aus Menschenscheu, vielleicht, weil er sich selbst betrafen wollte. Wofür? Davongelaufen zu sein, statt den Laden (das Berliner Ensemble) kurz und klein geschlagen zu haben?

Lauter Widersprüche - und über allen thront die Mutter. Sie ist stark, wenn er sich schwach fühlt, sie und nur sie betet er an. Schleef, der Einzelgänger, der auf der Bühne bevorzugt in Chören sprechen ließ, schleppte das Sangerhausen seiner Kindheit überall hin. Die Kleinstadt, durch die man als lebenslanger Fremdling, anderswo längst anerkannt, immer nur geduckt läuft. Das nennt man Heimat! Ist das da nicht der komische Junge von nebenan, der sich für was Besseres hielt und nun in der Großstadt Leute gefunden hat, die er übertölpeln kann? Die ewige Wahrheit der wachsamen Nachbarn hinter der Gardine, die immer alles beobachten. Schleef kennt die Grausamkeiten der Provinz, aus ihnen schöpft er.

Seine Texte protokollieren Bewusstseinsströme. Sie rasen und stolpern wie sein Sprechen. Den Vater, einen verbitterten Kleinstadtarchitekten, verachtet er in dem Maße, wie er seine proletarische Mutter immer mehr bewundert. Sie überlebt hier nicht nur, sie lebt auf ihre ganz eigene Art, lässt sich auch ihre Ansichten über Menschen und Dinge von niemandem abhandeln, egal, ob sie politisch und familiär opportun sind oder nicht. Der Dramatiker Lothar Trolle, der als Jugendlicher mit Schleef eine Zeit lang zur Schule ging, erinnert sich an das blindwütige Autoritätsgehabe des Vaters: »Der hat Schleef vor meinen Augen geprügelt, hat ihn geohrfeigt, mit 16, 17 Jahren. ›Wie siehst du aus, wie läufst du rum?‹ Patsch, patsch, patsch, ganz furchtbar. Es war das Unfreieste, was ich kannte. In jeder Proletenfamilie gab es mehr Freiheit.« Als der Vater 1971 stirbt, fühlt sich der 27-jährige Einar endlich frei.

In dem Roman »Gertrud« denkt er 1980 über das Leben seiner Mutter nach. »Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in die Weimaraner, die Ehe auf Hitler und das Alter in die DDR. Das 1000-jährige Gottesreich erleb ich nimmer.« Den Roman adaptierte vor Jahren bereits Armin Petras für die Bühne, nun also Jakob Fedler an den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Ausstatterin Dorien Thomsen stellt einen messing-roten Sarg wie eine uneinnehmbare Burg in die Bühnenmitte.

Antonia Bill, Wolfram Koch und Almut Zilcher sind Gertrud in multipler Fassung: Monolog mit verteilten Rollen. Sie mühen sich mit den Textmassen, glänzen mitunter sogar virtuos, aber bewegen sich im falschen Format. Die wundgeriebene Seele Einar Schleefs im Gegenüber zu seiner grob-zarten Mutter, die einmal als hochtalentierte Leichtathletin galt - wo ist sie? Da die Familie zu arm war, um ihr Turnschuhe zu kaufen, lief sie eben barfuß und gewann trotzdem. Alles, was mich nicht umbringt, macht mich stärker? Vielleicht sah Schleef, der sich später auf der Bühne in Nietzsche-Monologe warf, als gelte es sein Leben, in seiner Mutter Nietzsches Übermenschen in der für ihn einzig gültigen Form.

Doch davon ist in dieser eher unbedarft-geschichtsenthobenen Inszenierung wenig zu sehen. Es mangelt an Gewicht, das diese Jahrhundert-Geschichte doch wohl besitzt. Leben heißt für Gertrud, die schuftende Mutter Gottes (Einars), dieses Gewicht wieder in die ihr höchst eigene spartanische Lebensform zurückzuverwandeln. Man hat den unguten Eindruck, dass es sich Jakob Fedler, der auch die Bühnenfassung verantwortet, ungebührlich leicht macht, sowohl mit der sperrigen Schleef-Prosa als auch mit der Weltgeschichte im Spiegel der Provinz. Das Widersprüchliche fällt in dieser Inszenierung auseinander in belanglose Eindeutigkeiten. Der Geschichts-Rahmen des Lebens von Mutter und Sohn scheint gar nicht vorhanden. Wir sehen stattdessen einen heiter drapierten Biedermeierbilderbogen, der irgendwo spielt - und das ist eine geistige Verfassung, die Schleef einst härter zusetzte als alle väterlichen Schläge.

Den wachsenden Riss in der heilen Kleinwelt der Schleefs galt es zu erkunden, stattdessen sind hier alle drei Gertrud-Erscheinungen bloß ungebührlich frohgemut - so als hätten sie alle Abstürze, die hinter Vater, Mutter und Sohn liegen, erst noch vor sich.

Nächste Vorstellung am 23. Januar

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