Aus dem »Morgen« werden oft Jahre

Im Flughafen von Frankfurt am Main leben rund 200 Wohnungslose

  • Carina Dobra, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 3 Min.

Es mieft ein wenig im Zimmer von Chris. Nach Rauch und altem Schweiß. Sein Zimmer im Übergangswohnhaus der Diakonie im Frankfurter Bahnhofsviertel ist bescheiden eingerichtet. Bett, Tisch, Schrank - mehr braucht der gebürtige Bayer mit polnischen Wurzeln nicht. »Tschuldigung, ist nicht aufgeräumt«, sagt Chris und lächelt etwas verschämt in die Richtung von Kristina Wessel.

Die Sozialarbeiterin hat den ehemaligen Obdachlosen weggeholt vom Flughafen und ihm das Zimmer im Übernachtungshaus der Diakonie besorgt. Derzeit seien rund 200 wohnungslose Menschen am Airport anzutreffen, berichtet Wessel, die seit gut einem Jahr im Rahmen eines Diakonie-Projekts am Flughafen Frankfurt arbeitet. Viele von ihnen seien tagsüber in der Stadt unterwegs und kämen abends zum Schlafen dorthin. 60 Wohnungslose lebten sogar dauerhaft auf dem Gelände.

Am Flughafen fühlen sich die Obdachlosen sicherer als auf der Straße, können in der Menschenmenge untertauchen. Sogar Wessel kann die Wohnungslosen manchmal nicht von den Fluggästen unterscheiden. »Wenn da jemand auf einer Bank liegt und schläft, könnte das auch ein Fluggast sein, dessen Flieger Verspätung hatte.«

Der 47-jährige Chris hat über drei Jahre im Flughafen gelebt. Tag und Nacht. Heute wirkt er zufrieden und fröhlich. Wenn er an sein früheres Leben zurückdenkt, ändert sich sein Gesichtsausdruck jedoch schlagartig. Seine freundlichen grünen Augen füllen sich mit Tränen. »Tschuldigung«, sagt er leise und erzählt, wie ihn vor einigen Jahren seine Frau wegen eines anderen Mannes verlassen hat. Er habe damals in der Produktion gearbeitet und gut verdient. Nach der Trennung ging es bergab. Er zahlte seine Miete nicht mehr, flog aus der Wohnung, verlor seinen Führerschein, trank Alkohol.

Am Flughafen hat Chris bis zu zehn Euro pro Tag verdient - hauptsächlich durch das Sammeln von Pfandflaschen, wie die anderen Wohnungslosen auch. Außerdem gebe es keine großzügigeren Menschen als Fluggäste in Urlaubslaune, sagt Wessel. Dass Fluggäste beleidigend oder aggressiv auf die Wohnungslosen reagiert hätten, ist der jungen Sozialarbeiterin nicht bekannt. Viele seien einfach verwundert. Sie wüssten nicht, dass Obdachlose am Flughafen leben.

Nach einem Jahr hatte Chris sogar ein Stück Privatsphäre im Flughafen. Er suchte sich eine einsame Ecke, um dort auf einer Bank zu schlafen. »Das war zwar nicht so schön wie hier«, erzählt Chris und klopft lachend auf sein Bett, »aber immerhin.«

Die vergleichsweise gute Situation am Flughafen ist für die Sozialarbeiterin Wessel durchaus ein Pro-blem. Es sei schwer, die Menschen zu motivieren, den Flughafen zu verlassen. Zunächst begleitet sie ihre Klienten zu Ämtern, Beratungsstellen oder zum Arzt. Außerdem informiert die Sozialarbeiterin über die Angebote der Diakonie und anderer Träger der Wohnungslosenhilfe. Dazu gehören unter anderem Tagestreffs, Notübernachtungen und Übergangswohnheime. »Anreize hier am Flughafen wären kontraproduktiv«, erklärt sie.

Bei Chris hat alles geklappt. Er habe sich schnell helfen lassen und habe gut mitgearbeitet. »Sein Fall ist eine Erfolgsgeschichte«, sagt Wessel und nickt Chris zu. Aber nicht jeder lässt sich so schnell darauf ein. Hinzu kommt, dass die Sozialarbeiterin gar nicht die Zeit hat, mit allen zu reden. Sie brauche mindestens noch eine zweite, feste Sozialarbeiterin an ihrer Seite, sagt sie.

Chris ist dankbar, dass Kristina Wessel ihn vom Flughafen geholt hat. Ohne sie hätte er den Absprung nicht geschafft, erzählt er unter Tränen. »Ich hab immer gesagt: Morgen, morgen. Morgen gehe ich hier weg.« Aus dem »Morgen« wurden Jahre. Jetzt hat er nicht nur ein Zimmer im Übergangswohnheim, sondern auch einen Job in Aussicht: als Küchenhilfe in einem Restaurant in Offenbach. Wenn er den Job bekommt, möchte er sich dort auch eine Wohnung suchen. epd/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -