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Gebt den Menschen Wahrheit

Heinrich Vogelers Friedensappell an Kaiser Wilhelm II. vor 100 Jahren.

  • Felix von Bothmer
  • Lesedauer: 8 Min.

Vor dem Ersten Weltkrieg war der Maler Heinrich Vogeler lange Zeit des Bürgers »liebstes Kind«, erfolgsverwöhnt, anerkannt und verträumt. Zunächst inszenierte er sein Leben als Kunstwerk - bis die Realität ihn einholte und in eine tiefe Krise stürzte. Als Freiwilliger folgte er im August 1914 dem Ruf der Waffen, überzeugt, Deutschland sei überfallen worden. Als »Kriegszeichner« sah er die Grausamkeit des Völkermordens in den Karpaten sowie vor den Schlachtfeldern von Verdun und erkannte, dass »die Militärkaste gar nicht fürs Volk kämpfte, sondern für den Mehrbesitz der Reichen«. Dabei dachte Vogeler vor allem an die einfachen Soldaten, »die den Mächtigen nur als Kanonenfutter taugen. Es muss endlich Frieden sein. Der Krieg hat mich zu einem glühenden Pazifisten gemacht. Nach all dem Elend, das der Krieg über die Völker gebracht hat, kann Deutschland nur noch ein christlich geprägter Sozialismus helfen.«

Als sich im Oktober 1917 die kriegsgegnerisch orientierte Revolution der Bolschewiki durchsetzt, sieht er einen Silberstreifen am Horizont. Doch statt einer Verständigung diktiert deutscher Eroberungsgeist den »Frieden« von Brest-Litowsk. Vogeler soll ein Plakat für die Propaganda einer neuen Kriegsanleihe fertigen. Er entscheidet sich, den Befehl zu unterlaufen, skizziert eine niederdeutsche Bäuerin mit Holzschuhen, die sich mit der linken Hand auf einen Spaten stützt und mit der rechten die Augen vor der Sonne schützt. »Zeichnet Kriegsanleihen - Die Heimat ruft!« steht auf dem Plakat. Der Entwurf lässt durchaus die Interpretation zu, dass die Bäuerin sich nach ihren Söhnen sehnt. Es geschieht, was Vogeler erwartet hat. Seinen Auftraggebern missfällt das Plakat, aber ihm einen Vorwurf zu machen, dazu reicht es nicht. Der ihm wohlgesonnene General Gerok schickt ihn zur Erholung nach Hause, wo er einen neuen Entwurf für die Kriegsanleihe erarbeiten soll. Doch Vogeler entzieht sich der Aufgabe.

Er befindet sich im Januar 1918 in Worpswede in einer fast trancehaften Stimmung und fasst den Entschluss, wie er schreibt, »für die Erkenntnis der Wahrheit alles einzusetzen, um die Last der Lüge nicht durch mein ganzes Leben weiterschleppen zu müssen«. Er ist nicht bereit, länger mitzumachen oder zu schweigen. Als die Verhandlungen von Brest-Litowsk noch laufen, sagt ein höherer Generalstabsoffizier zu ihm: »Wir Deutschen müssen einen Frieden machen, der das Gift der Zerstörung für unseren Feind in sich trägt.« Solche Haltung der deutschen Regierung, Militärs und führenden Kreise nimmt sich in den Augen des Malers als Gewalt aus: »Mit dieser Anschauung vom Frieden muss aufgeräumt werden, denn das ist Krieg.«

Und aus diesem Grunde setzt er sich in Worpswede hin und bringt in der Nacht vom 20. Januar 1918 seinen Friedensappell an Kaiser Wilhelm II. zu Papier, nachträglich von ihm »Das Märchen vom lieben Gott - Brief eines Unteroffiziers an den Kaiser im Januar 1918, als Protest gegen den Frieden von Brest-Litowsk« genannt. In Form einer Fabel führt er den höchsten militärischen Stellen vor Augen, was geschähe, würde Gott zu ihnen kommen:

Ein alter, trauriger Mann verteilt auf Flugblättern mit der Überschrift »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« die zehn Gebote, predigt am Nachmittag des 24. Dezember den Menschen auf dem Potsdamer Platz in Berlin den Frieden - und gerät in das Räderwerk der Militärdiktatur. Gott wird verhaftet und standrechtlich erschossen. Wenige Tage später, so geht die Erzählung weiter, beschließen die Feldherren in Berlin, die Welt mit dem Schwerte in der Hand vor sich in die Knie zu zwingen. Und sie erheben sich selber zum bluttriefenden Götzen, aus dessen selbstherrlicher Hand die Menschheit ihre Gesetze empfangen solle. Plötzlich werden sie gewahr, wie der totgeglaubte, alte Mann mitten unter ihnen auferstanden ist und stumm auf die Zehn Gebote weist. Aber niemand schaut auf ihn. Da gibt Gott sich zu erkennen. Doch er muss feststellen, dass man ihn gar nicht kennen will. Gott flieht vor den Menschen und überlässt sie sich selbst. Sodann heißt es in Vogelers »Märchen«: »Die Götzen aber führten das Volk immer tiefer ins Elend und erweckten weiter Hass, Bitternis, Zerstörung und Tod, und wie sie nichts mehr hatten außer blechernen Schmucksternen und Kreuzen, verschenkten sie das gestohlene Gut ihren Völkern.

Da ging Gott zu denen, die zusammengebrochen waren unter der Bürde der Leiden, unter Hass und Lüge: ›Es gibt über euren Götzen einen Gott, es gibt über eurem Fahneneid meine ewigen Gesetze. Es gibt über eurem Hass die Liebe.‹ Da gaben die Krüppel ihre blutstinkenden grauen Kleider, ihre Orden und Ehrenzeichen zurück an den Gott des Mammons, gingen unter das Volk und entheiligten die Mordwaffen und vernichteten sie. Gott aber ging zum Kaiser: ›Du bist Sklave des Scheins. Werde Herr des Lichtes, indem du der Wahrheit dienst und die Lüge erkennst. Vernichte die Grenzen, sei der Menschheit Führer ... Sei Friedensfürst, setze an die Stelle des Wortes die Tat, Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung.‹«

Die Nacht nach der Abfassung des »Märchens« empfindet Vogeler als die »seligsten Stunden seines Lebens«. Er ist mit sich im Reinen. »Dies«, so schreibt er, »sei ein Schrei. Für alle Öffentlichkeit bestimmt mit allen Konsequenzen! Was liegt daran, wenn man mich persönlich vernichtet, wenn ich nur gehört werde, es sterben so viel bessere, stärkere Menschen wie ich. Verloren habe ich fast alle meine Freunde, meine äußeren Erfolge, und doch müssen sie mich hören, so kann man nicht weiterleben, dann vernichtet mich lieber.«

Mit seiner Initiative suchte Vogeler Frieden zu stiften, indem er sein eigenes Schicksal mit dem der Welt verknüpfte. Ungeachtet seines missionarischen Handelns blieb ihm bewusst: »Vorderhand bin ich aber weder irrsinnig noch ein Heiliger, sondern ein Mensch, der durch schwer errungene Erkenntnis etwas Licht in diese Welt bringen will.« Vogeler sendet seinen christlich-ethischen Appell mit Hilfe seines vorgesetzten Majors nicht nur an Kaiser Wilhelm II. Eine Abschrift schickt er zugleich an die Oberste Heeresleitung. Der Generalquartiermeister Erich Ludendorff ist so empört, dass er den Künstler sofort erschießen lassen will. Vogeler hat damit durchaus gerechnet. Für ihn handelt es sich ganz einfach, wie er drei Tage später, am 23. Januar 1918, seinem vorgesetzten Major mitteilt, um Leben oder Tod. Er sehe sich aber gezwungen, »diesen Weg zu gehen, aus dem es kein Zurück mehr gibt«. Denn: »Nichts mehr hielt stand vor der Wahrhaftigkeit ewiger Gesetze. Wir Menschen hatten die Seele ausgeschaltet, an ihre Stelle die Organisation gesetzt, die Organisation der Rache des Hasses, und riefen Gott an, unsere Verbrechen zu heiligen.«

Im Schreiben an seinen Major mahnt Vogeler nochmals unmissverständlich: »Unser Volk ist am Ende, die Revolution lebt wie eine fressende Flamme. Kein Brot, keine Sättigung kann sie ausschalten! Wahrheit! Wahrheit. Gebt den Menschen Wahrheit.« Und er schließt mit dem Appell: »Es geht um die Ehre meines Vaterlandes, es geht um Gott, es geht um mich … Vielleicht ist noch was zu retten - nicht für mich - für den Kaiser, für das Volk! Habt nicht die Feigheit mich ins Irrenhaus zu sperren.«

Genau das geschieht. Vogeler landet in einer Bremer Irrenanstalt. Der behandelnde Arzt entlässt ihn nach gut zwei Monaten als nicht mehr militärfähig. Fortan engagiert sich der Künstler, obwohl unter Polizeiaufsicht, für eine neue Welt, fernab von Gewalt, sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung.

Vogeler begriff sein »Märchen vom lieben Gott« als logische Folge der fehlenden Ethik im politischen Leben des deutschen Volkes bzw. als Folge der Indienstnahme von Moral und Ethik, von Religion und Theologie für höchst amoralische Zwecke. Mit seinem Protest gegen die eklatante Verletzung des christlichen Liebesgebotes hat er zugleich seine öffentliche Desertion vollzogen.

Das deutsche Bürgertum hat ihm den Schritt, den Mächtigen den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen, mehr als verübelt. Der Maler sah sich mit Angriffen und üblen Bezichtigungen, Verfolgungen und Inhaftierungen konfrontiert. Selbst in Künstlerkreisen versuchte man ihn als »Sonderling« oder gar als »Geisteskranken« abzutun. Wenige haben wie er den Mut aufgebracht, schlicht und ergreifend Nein zu sagen, und den Mächtigen Widerstand geleistet. Ein Protest wie ihn Vogeler sich von der Seele geschrieben hat, war von der Mehrheit der deutschen Künstler nicht zu erwarten gewesen. Wie in Stein gemeißelt wirken seine Worte - ehern, zeitlos.

Vogelers Friedensappell gehört zu den berühmtesten deutschen Künstlerschriften des 20. Jahrhunderts. Seine Klage über die Verlogenheit der deutschen Politik und seine Aufforderung an den Kaiser und die Oberste Heeresleitung, umzukehren und Frieden zu schließen, hat seinem Leben und Werk eine neue Richtung eröffnet und ein Beispiel moralischer Größe gegeben. Die Deutsche UNESCO-Kommission würdigt explizit den Künstler, »dessen Friedensbrief an Kaiser Wilhelm II. als kühnes Friedensvorhaben in die Geschichte einging und dessen Verhalten auch heutige Generationen beeindruckt«.

Wie der im Mai 1920 von einer rechtsradikalen Reichswehrtruppe ermordete Kapitänleutnant a. D. und Kriegsgegner Hans Paasche begriff Heinrich Vogeler den Ersten Weltkrieg und die deutsche Verantwortung dafür als eine »Schändung des Evangeliums«. Und wie Paasche forderte er eine Abkehr vom Militarismus und für eine Neuorientierung der Politik, die nicht weiter auf Gewalt- und Machtkategorien basieren, sondern auf Verständigung und Aussöhnung beruhen sollte.

In diesen Tagen kommt übrigens ein Buch auf den Markt, in dem der Hamburger Privatdozent Bernd Stenzig eingehend und kenntnisreich die Umstände und Folgen der außergewöhnlich mutigen Tat von Heinrich Vogler, seines Friedensappells an Kaiser Wilhelm II., in Deutschland und - nach Vogelers Übersiedlung im Juni 1931 - in der Sowjetunion untersucht. Um nicht in die Mühlen der »Stalinschen Säuberungen« zu geraten, interpretierte Vogeler sein »Märchen vom lieben Gott« zur Tat eines »Sozialisten« um - als »die Handlung eines von der russischen Revolution Ergriffenen und von den Dekreten der Bolschewiki Überzeugten«. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 beteiligte er sich am propagandistischen Kampf »für die Zersetzung der faschistischen Front«. Und doch wurde der Künstler, dessen Name sich auf der »Sonderfahndungsliste UdSSR« des Reichssicherheitshauptamtes befand, nach Kasachstan »evakuiert«, wo er am 14. Juni 1942 krank und entkräftet starb.

Bernd Stenzig: Das Märchen vom lieben Gott. Heinrich Vogelers Friedensappell an den Kaiser im Januar 1918. Donat Verlag, 120 S., geb., 14,80 €.

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