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Der Lauf des Lebens

Im fünften Versuch gewinnt Aljona Sawtschenko mit Bruno Massot endlich Eiskunstlaufgold

Aljona Sawtschenko legte sich erst einmal aufs Eis. Minuten später konnte sie sich schon nicht mehr erinnern, woran sie in diesem Moment gedacht hatte. Sie hatte ihn einfach nur genossen. Endlich war mal eine olympische Kür glatt gelaufen, endlich war der ganz große Plan aufgegangen. Dass es am Ende sogar zur so lange ersehnten Goldmedaille reichen würde, wusste sie zwar noch nicht, als sie sich voller Glück danieder legte. »Aber ich war mir sicher, dass das für eine Medaille reichen würde. Das war der Lauf meines Lebens«, sagte sie später.

Die Juroren sahen das auch so und verteilten Höchstnoten an Sawtschenko und ihren Partner Bruno Massot, die sich zum neuen Kürweltrekord summieren sollten. Doch Platz vier und sechs Punkte Rückstand nach dem Kurzprogramm bedeuteten, dass Massot und Sawtschenko nun noch zittern mussten, denn drei Paare kamen noch. Zunächst schafften es die Kanadier Meagan Duhamel und Eric Radford nicht an den Deutschen vorbei, dann kamen die zur Halbzeit führenden Chinesen Sui Wenjing und Han Cong. Wären sie auch in der Kür fehlerfrei gelaufen, hätte Sawtschenko auch im fünften Anlauf ihre letzte noch fehlende Goldmedaille mit Sicherheit verpasst. Doch Han sprang in der Kombination den zweiten Toeloop nur einzeln statt doppelt, bevor seine Partnerin beim dreifachen Salchow überdrehte. Fehler, die das deutsche Paar plötzlich auf mehr hoffen ließen.

Vor acht Jahren waren Sawtschenko und Robin Szolkowy als dreifache Weltmeister und damit als Favoriten zu den Olympischen Spielen in Vancouver gereist, nur um dort von zwei chinesischen Paaren besiegt zu werden. Shen Xue und Zhao Hongbo liefen damals ihre letzten Olympischen Spiele und nicht wenige sagten danach, dass die Preisrichter ihnen zum Abschied einen großen Sieg schenken wollten. 2018 schienen die Voraussetzungen genau umgekehrt zu sein. Dieses Mal war die 1,53 Meter kleine Sawtschenko zur Grand Dame des Paarlaufs aufgestiegen. »Ich merkte schon nach dem Kurzprogramm, in dem wir große Fehler machten, aber nur sechs Punkte hinten lagen, dass die Preisrichter hinter uns stehen. Und als ich am Morgen aufwachte, dachte ich: Heute schreiben wir Geschichte. Das ist mein Moment«, sagte die gebürtige Ukrainerin.

Tatsächlich gewannen die Deutschen letztlich mit gerade mal 0,43 Punkten Vorsprung. In der rein subjektiven Bewertung der künstlerischen Präsentation bekamen sie 0,45 Punkte mehr als die jungen Chinesen Sui und Han. Mal verliert man, mal gewinnt man, irgendwann gleicht sich alles aus. Der Lauf des Lebens eben. Sui und Han müssen auf die Spiele 2022 warten und werden dann vor ihrem Heimpublikum in Peking wohl ihrerseits auf einen kleinen Bonus hoffen dürfen.

Vorwürfe an die Adresse der Juroren waren von den Chinesen in Gangneung nicht zu vernehmen. Dafür aber ein »Herlichen Dank!« von Sawtschenko. Auch Trainer Alexander König meinte, dass »wir diesmal nicht mit der Jury meckern können. Seien wir ehrlich, das hätte auch andersherum ausgehen dürfen.«

Verdient war der Sieg trotz allem. Auch die drittplatzierten Kanadier sahen das so. »Aljona ist mein Idol, nach dem Kurzprogramm hoffte der Fan in mir, dass sie es in der Kür besser machen. Sie haben es so sehr verdient«, sagte Duhamel, bevor Partner Radford noch einen draufsetzte in der Lobhudelei: »Aljona und Bruno haben den Paarlauf auf ein neues Niveau gehoben. Wenn ich sie beobachte, verliere ich mich total in ihrer Darbietung. Und es gibt nicht viele Kontrahenten, von denen ich das je gesagt hätte.«

Selbstredend hielt sich auch Meistertrainer König nicht zurück: »Das war die beste Kür, die ich jemals gesehen habe. Heute warn wa richtich jut!«, scherzte der Berliner, der nach zehn Jahren in Oberstdorf aus familiären Gründen in seine Heimat zurückkehren wird. König ist einer der vielen Bausteine, die Sawtschenko nach den Spielen von 2014 neu zusammengesetzt hat, als sie ein zweites Mal enttäuscht mit Bronze nach Chemnitz zurückgereist war. Szolkowy trat zurück, also suchte sie sich im Franzosen Massot einen neuen Partner. Es folgte die Trennung von ihrem Trainer Ingo Steuer und der Umzug von Chemnitz nach Oberstdorf. »Wir haben ein neues Team um uns aufgebaut und an dieses Team geglaubt. Wir sind zusammengewachsen, und dann habe ich auch noch meinen Ehemann kennengelernt. Es hat sich unerwartet alles zum Positiven gewandelt«, sagte Sawtschenko, die 2002 in Salt Lake City noch für die Ukraine ihre Olympiapremiere gegeben hatte, danach aber bei der Suche nach einem besseren Partner zu wenig Unterstützung von ihrem Heimatverband erfuhr.

So kam sie nach Deutschland, holte mit Szolkowy viele Titel und läuft nun mit einem Franzosen, der erst wenige Wochen vor den Spielen von Pyeongchang seinen eigenen Einbürgerungstest bestand. »Man weiß nie, welche Nationalität oder welches Blut wirklich in einem steckt. Das ist am Ende auch alles egal. Wir sind froh, dass wir diesen Sieg für Deutschland eingefahren haben, dem Land, das uns geholfen und so sehr unterstützt hat«, sagte sie. Für den 29-jährigen Massot waren es die ersten Spiele. Die in Sotschi 2014 hatte er ironischerweise verpasst, weil seine damalige Partnerin Daria Popowa - eine gebürtige Russin, die mit sieben nach Deutschland gezogen war - nicht rechtzeitig ihren französischen Pass erhalten hatte.

Nach der Kür in der Gangneung Ice Arena verbeugte sich Massot vor Sawtschenko. Als dann niemand mehr an ihnen vorbeizog, weinten sie minutenlang gemeinsam, und schließlich hob Massot seine Partnerin aufs Podest - bei der Siegerehrung und im Übertragenen, denn im Kurzprogramm hatte er einige Fehler gemacht und danach den Trost seiner Partnerin benötigt. »Ich hatte sehr daran zu knabbern. Aber Aljona war für mich da. Sie hat mir gesagt, dass noch nichts vorbei ist. Wir wussten, dass wir eine tolle Goldkür hatten, und das wollten wir allen zeigen«, berichtete Massot vom Vorabend. »Wir haben nicht aufgegeben, sind aufs Eis und haben gekämpft. Unfassbar, dass wir es von Platz vier noch ganz nach vorn geschafft haben.«

Wie es nun weitergeht, ist noch unklar. Die Fans vernahmen mit Freude, dass die neuen Olympiasieger auch bei den Weltmeisterschaften im März in Mailand antreten wollen. Man hätte sich gut vorstellen können, dass Sawtschenko den Moment des größten Erfolgs nutzt, um abzutreten, so wie es das kanadische Paar tat. Doch daran verschwendete sie keinen Gedanken. »Alles, was jetzt noch kommt, ist ein Bonus. Erst mal genieße ich diesen Moment. Den gibt es schließlich nur einmal.«

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