Im Kampf für die Republik
Heinrich Manns Essays, Aufsätze, Reden und Interviews der Jahre 1926 bis 1929
Fünfzehn Jahre musste er warten, dann erschien »Der Untertan«, und mit ihm kam der Erfolg. Frank Wedekind und André Gide war es ähnlich ergangen. Die Auflagen am Anfang klein, der Gewinn unbeträchtlich. »Wir waren dazu erzogen«, schrieb Heinrich Mann Ende Mai 1928, »in allem Geistigen nur unser eigenes Gesetz anzuerkennen, nicht aber soziale Abhängigkeiten«. Mit einem knappen Rückblick antwortete er auf eine Frage der angesehenen »Literarischen Welt«, die von Autoren des Landes wissen wollte, warum ihre Bücher viel gelesen würden. Für ihn, bekannte er, zähle nicht allein der »innere Ruf«, um erfolgreich zu sein: »Mit allem, auch mit dem Schreiben, sind jetzt unmittelbar soziale Dienste zu leisten. Das weiß und befolge ich nach Kräften selbst.«
Die zwanziger Jahre wurden seine große Zeit. Er lebte in München, hielt sich aber oft und lange in Berlin auf. 1928 nahm er seinen Wohnsitz endgültig in der Stadt, er reiste, hielt Vorträge, gab Interviews und schrieb. Schrieb leicht und schnell. Sein Arbeitstempo war enorm. 1925 hatte er die satirische Novelle »Kobes« und den Roman »Der Kopf« veröffentlicht, den Schlussteil seiner Trilogie über das Kaiserreich, die mit dem »Untertan« eröffnet und mit den »Armen« fortgesetzt worden war. Paul Zsolnay, sein neuer Verlag in Wien, startete eine Ausgabe der Gesammelten Werke, die 1927 schon mit dem Roman »Mutter Marie«, im Jahr darauf mit »Eugénie oder Die Bürgerzeit« verlängert wurde. Er schrieb die Novelle »Liane und Paul« (1926) mit ihrem »Inferno heutiger Atmosphäre«, das Singspiel »Bibi« (1928) und im Ostseebad Heringsdorf die ersten Seiten des Romans »Die große Sache«. Er legte eine Sammlung seiner Novellen vor und 1929 schließlich einen weiteren Essayband, einen Rückblick auf die Publizistik der letzten sieben Jahre, fünfhundertfünfzig Seiten über Berlin, Frank Wedekind, Theater, Film, Justiz und französische Literatur.
Es war eine bescheidene Auswahl nur, ein Buch, das bündelte, was vorher in Zeitungen gestanden hatte, Gedenkartikel, Erinnerungen, politische Einlassungen, Gelegenheitsarbeiten. Freilich. Der Umfang all dessen, was für den Tag und die Stunde gedacht war, ließ sich nicht einmal ahnen. Der wird erst sichtbar, seit der kleine Aisthesis-Verlag in Bielefeld, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, sein ehrgeiziges Großprojekt vorantreibt: die Kritische Ausgabe der Essays und Aufsätze, 2009 mit den Bänden 5 und 6 begonnen und jetzt, wieder in zwei Halbbänden, mit Band 4 fortgesetzt. Er fasst die Texte der Jahre 1926 bis 1929 zusammen.
»Von allen deutschen Schriftstellern«, hat Bruder Thomas 1925 erklärt, »ist Heinrich Mann der gesellschaftsbewußteste; er ist ein Mann, dessen Interessen in einem Ausmaß gesellschaftlich und politisch sind, das zwar in westeuropäischen und speziell romanischen Ländern nicht außergewöhnlich, bei uns aber ohne Beispiel ist …« Es war nicht übertrieben. Der Erzähler, während der Inflation noch gezwungen, seinen Unterhalt mit Zeitungsbeiträgen zu bestreiten, wurde zunehmend durch seine tagespolitischen Artikel, Appelle, Analysen und Gespräche wahrgenommen. Nie war der radikale Republikaner populärer als jetzt.
Der Bruder hatte recht: Es gab keinen zweiten Schriftsteller in Deutschland, der sich, »ohne Respekt vor den herrschenden sozialpolitischen oder künstlerischen Konventionen« (Hermann Kesten), so vehement, so kritisch, auch so oft zu Wort meldete: gegen das Zensurgesetz der Regierung, das sich als Gesetz gegen Schmutz und Schund tarnte; gegen Antisemitismus; für eine »Politik der Verantwortung und Ordnung gegen die räuberische Anarchie«; für die Aussöhnung und Verständigung mit Frankreich; gegen die Verächter und Feinde der Republik; für eine Diktatur der Vernunft und den politischen Anspruch der neu gegründeten Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Am 27. Oktober 1926 war er ihr Mitglied geworden. »Aufgabe einer berufenen Vertretung der Dichtkunst ist es«, heißt es in seinem Bericht an die Akademie, »die Autorität in ihre Grenzen zu weisen und die geistige Freiheit vor Fallen, die ihr gelegt werden, zu schützen«.
Er war rastlos. Im Mai 1927 entschuldigte er sich bei seinem französischen Freund Félix Bertaux, dass er so lange geschwiegen hatte. »Der Winter war stark überladen«, schrieb er, und er sei nie zur Ruhe gekommen. Und nun gehe es gleich wieder auf eine Vortragsreise, diesmal nach Zürich, Bern und Freiburg. Das Thema: die Literatur und die deutsch-französische Verständigung. Später, im November 1927, wird Heinrich Mann ausführlich erzählen, wie er 1925 zum zweiten Mal nach dem Krieg durch das Nachbarland reiste, nach Biarritz und Pau kam, wo er Henri Quatre fand, Frankreichs guten König (der dann der Held seines großen Exilromans wurde), und wie ihm ein Lehrer eines Abends gestand, er sei extra gekommen, um zu danken, »daß ich für Frankreich sei und für Freundschaft mit Frankreich«.
Im Dezember 1927 war Heinrich Mann erneut in Paris. Im Palais du Trocadéro sprach er zu Ehren Victor Hugos, der als Erster die »Vereinigten Staaten von Europa« gefordert hat und so »sein großes Herz der Gesamtheit der Nationen« öffnete, für ihn, den Redner, ein Beispiel, das er brauchte. Er hatte schon auf vielen Tagungen und Kundgebungen gesprochen, aber nie vor einem Auditorium wie hier. Im riesigen Saal, der sonst für Volksfeierlichkeiten genutzt wurde, drängten sich fünftausend Menschen, um den »großen Republikaner« in ihrer Muttersprache zu hören und zu feiern. Vor sieben Jahren, meinte Félix Bertaux, der für den »Berliner Börsen-Courier« über diese denkwürdige Veranstaltung berichtete, sei Heinrich Mann in Frankreich noch unbekannt gewesen. Und es seien nicht die Romane, die ihm so viel Sympathie eintrugen. Es war sein überzeugendes Engagement für die Aussöhnung beider Völker.
Heinrich Mann ist in jenen Jahren der geistige Repräsentant der Weimarer Republik geworden. Der neue Band seiner Publizistik, zu danken der Sorgfalt, dem Spürsinn und dem Finderglück der Herausgeberin Ariane Martin, erfasst noch die entlegenste Äußerung, all das weit Verstreute, nie wieder Gedruckte, Verschollene, die vielen Interviews, die unveröffentlichten Beiträge. Zu sehen ist in frappierender Vollständigkeit der Tagesschriftsteller und Essayist mit seinem Mut und seiner Sensibilität, der Kämpfer, der Antibürger, der Literat, der immer wieder auch über bewunderte Autoren schrieb, über Zola, Leonhard Frank, Gorki oder Ibsen. Selbst das Beiläufige, etwa eine kleine Erinnerung an die Weihnachtsfeste seiner Kindheit oder ein charmantes Plädoyer für den Bubikopf, den modischen Haarschnitt der Frauen, steht hier ganz selbstverständlich inmitten der großen, zumeist politischen Bekundungen. Das alles, chronologisch geordnet, ist im Kommentar, der den Textband im Umfang weit übertrifft, bewundernswert erläutert.
Noch ist diese beispielhafte Edition, die der Publizistik Heinrich Manns endlich den Platz im Werk einräumt, der ihr zukommt, nicht komplett. Aber sechs Bände mit diesem wissenschaftlichen Anspruch in nur acht Jahren: Das hat Seltenheitswert.
Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, Band 4: 1926 - 1929. Hg. von Ariane Martin, Teil 1: Texte, Teil 2: Anhang. Aisthesis, 2 Halbbände, 1425 S., geb., 278 €.
Buchpräsentation mit Ariane Martin, dem Herausgeber der Gesamtausgabe, Volker Riedel, und Heinrich-Mann-Preisträger Gunnar Decker am 22. Februar, 20 Uhr, Akademie der Künste, Pariser Platz, Berlin.
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