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Sozialleben macht schlau
Anthropologen entwickeln eine neue Theorie der Menschwerdung: Aufgrund von Veränderungen der Hirnchemie wurden unsere Vorfahren zu kooperativen Wesen.
Zwar ist das menschliche Gehirn mit einem Gewicht von rund 1350 Gramm nicht das schwerste im Tierreich. Bei Elefanten wiegt das Gehirn rund 5000, bei Pottwalen sogar 8000 bis 9000 Gramm. Bezieht man indes die Körpermaße in die Rechnung mit ein, dann besitzt der Mensch ein erheblich größeres Gehirn, als man aufgrund seiner Maße erwarten sollte, schreibt der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth. »Beim Menschen ist das Gehirn fast achtmal, beim Delphin fünfmal und beim Schimpansen zweieinhalbmal so groß wie im Säugerdurchschnitt.« Bei allen drei Arten wuchs das Gehirn in der Evolution schneller als der Körper. Am schnellsten geschah dies jedoch beim Menschen, dessen Gehirn in ein paar Millionen Jahren um fast 1000 Gramm zulegte.
Bleibt die Frage nach den Ursachen dieser enormen Vergrößerung. Dass ein leistungsfähiges Gehirn unseren Vorfahren im evolutionären Überlebenskampf Vorteile verschaffte, ist unbestritten. Doch worin bestanden diese Vorteile? Gewöhnlich heißt es, dass der Mensch dank seines großen Gehirns eine im Tierreich einzigartige Intelligenz entwickelt habe. Dadurch sei es ihm möglich gewesen, auch unter widrigen Umweltbedingungen und in einer Welt voller Feinde zu bestehen. Unter Anthropologen war lange die Auffassung vorherrschend, dass die frühe Entwicklung des menschlichen Gehirns hauptsächlich unter dem Druck der Herstellung neuer Werkzeuge und Waffen erfolgt sei. Denn deren Einsatz habe es unseren Vorfahren erlaubt, auch größere Tiere zu erlegen und als Nahrung zu nutzen. Die dadurch zusätzlich gewonnene Energie konnte in eine weitere Vergrößerung des Gehirns investiert werden, die sich wiederum förderlich auf die Entwicklung der menschlichen Intelligenz auswirkte.
In Grundzügen findet sich dieses Modell bereits in Friedrich Engels’ unvollendeter Schrift »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen«, worin die Arbeit vorrangig an die Verfertigung von Werkzeugen geknüpft wird: »Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache - das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluss das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommnere eines Menschen allmählich übergegangen ist.«
Ohne Zweifel hat die Werkzeug- und Waffenherstellung bei der Herausbildung der technischen Intelligenz des Menschen eine wichtige Rolle gespielt. Gleichwohl sind viele Wissenschaftler heute der Auffassung, dass die eigentliche Triebkraft der menschlichen Intelligenzentwicklung auf einem anderen Feld zu suchen ist: auf dem Feld des Sozialen. Die Intelligenz, die sich hier entfaltete, wird auch Machiavellische Intelligenz genannt - in Anlehnung an den Renaissance-Philosophen Niccolò Machiavelli, der in seinem 1513 verfassten Werk »Il Principe« (»Der Fürst«) die Techniken der Machtausübung zwischen Staaten und Menschen beschrieb.
Kurz gesagt bezeichnet die Machiavellische Intelligenz die Fähigkeit eines Menschen, sich in einer sozialen Gruppe gegenüber anderen Gruppenmitgliedern zu behaupten. Für den Einzelnen ist es dabei wichtig zu wissen, wer in der Gruppe die Fäden zieht, wer sich mit wem angefreundet oder verfeindet hat, wem man im Notfall vertrauen kann. Wer es darüber hinaus vermag, sich in die Gefühlslage anderer hineinzuversetzen und deren Handlungen im Voraus abzuschätzen, gewinnt zusätzliche Vorteile. Um all diese Aufgaben zu bewältigen, bedarf es einer hohen Hirnleistung beziehungsweise Intelligenz. Die Formen des Denkens, die zuerst bei der Lösung sozialer Probleme entwickelt worden seien, so behaupten die Verfechter der Theorie der Machiavellischen Intelligenz, hätten sich im Nachhinein auch für das Verständnis der Gesetzmäßigkeiten der unbelebten Natur als geeignet erwiesen.
»Wenn man die Größe einer Gruppe als groben Indikator für soziale Komplexität nimmt und sie mit dem Anteil des Neocortex am gesamten Gehirn vergleicht, ergibt sich tatsächlich ein Zusammenhang«, sagt Junker. Der Neocortex ist der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde, in dessen Zuständigkeit die komplexeren Formen der Informationsverarbeitung fallen. Je größer nun die sozialen Gruppen sind, in denen Tiere leben, desto höher ist der Anteil des Neocortex am Gesamtgehirn. »Die Intelligenz eines Tieres begrenzt offensichtlich die maximal erreichbare Gruppengröße«, so Junker. »Wird die Gruppe größer, sind die Individuen nicht mehr in der Lage, die sozialen Beziehungen aufrechtzuerhalten, und die Gruppe zerfällt.« Bei Schimpansen läge nach dieser Rechnung die maximale Gruppengröße bei 50 bis 55 Individuen, was recht gut mit empirischen Beobachtungen übereinstimmt. Beim Menschen kommt man auf eine maximale Gruppengröße von 100 bis 200 Personen. Dies entspricht der durchschnittlichen Größe sozialer Gruppen bei heutigen Jägern und Sammlern, etwa im Amazonasgebiet oder Zentralafrika.
Die Frage, welche Form der Intelligenz von größerer Bedeutung für die Menschwerdung war, wird bis heute kontrovers diskutiert, wenngleich immer mehr Wissenschaftler den sozialen Faktoren den Vorzug geben. Eine interessante Entdeckung, die ebenfalls in diese Richtung weist, hat jetzt ein Anthropologenteam um Mary Ann Raghanti von der Kent State University im US-Bundesstaat Ohio gemacht. Danach ging die »Menschwerdung des Affen« aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit einem kontinuierlichen Wachstum des Gehirns einher. »Etwas hat sich verändert, bevor das Gehirn groß wurde, bevor wir diese erweiterte Hirnrinde entwickelten.« Die Forscher vermuten, dass sich zunächst Veränderungen in der Hirnchemie vollzogen, die insbesondere das Sozialverhalten unserer Vorfahren beeinflussten. Natürlich kann man solche Veränderungen heute nicht mehr nachweisen. Denn von unseren vor Jahrmillionen lebenden Vorfahren sind bestenfalls fossile Schädelknochen übriggeblieben. Deshalb untersuchten Raghanti und ihre Kollegen die Gehirne von rezenten Primaten, von Menschen, Schimpansen, Gorillas, Pavianen, Makaken und Kapuzineraffen. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem sogenannten Striatum, einer zu den Basalganglien des Großhirns gehörenden Region, die maßgeblich an der Steuerung sozialer Verhaltensweisen beteiligt ist.
In den »Proceedings of the National Academy of Sciences« (DOI: 10.1073/pnas.1719666115) berichten die Forscher über ihre Ergebnisse. Demnach verschob sich das Spektrum verschiedener Neurotransmitter im Gehirn so, dass in der Entwicklung hin zum Menschen die Aggressivität gedämpft und die Kooperationsbereitschaft erhöht wurde. Konkret gesprochen haben Menschen, Schimpansen und Gorillas im Vergleich zu Pavianen und Makaken höhere Serotonin- und Neuropeptid-Y-Spiegel im Striatum. Beide Neurotransmitter werden mit einer verstärkten Sensibilität gegenüber sozialen Signalen assoziiert. Menschen indes weisen einen deutlich höheren Dopaminspiegel auf als Menschenaffen. Dagegen sind die Werte für Acetylcholin, einem Neurotransmitter, der mit einem dominanten und territorialen Verhalten verbunden ist, bei Menschen niedriger.
Diese Kombination von Neurotransmittern sei ein markanter Unterschied zwischen dem Homo sapiens und allen anderen Primaten, betonen die Forscher. »Wir gehen davon aus, dass Veränderungen im Striatum den Anstoß zu einer Reorganisation des Gehirns gaben, die zugleich das Wachstum der Großhirnrinde erleichterte.« C. Owen Lovejoy, Professor für Evolutionsbiologie an der Kent State University und Mitautor der Studie, hält es für möglich, dass die neurochemischen Veränderungen bereits vor 4,4 Millionen Jahren einsetzten. Damals lebte in Äthiopien ein Geschöpf namens Ardipithecus ramidus, das Anthropologen zu frühesten Ahnen des Menschen rechnen. Verglichen mit Schimpansen, die große Eckzähne besitzen, welche sie oft aggressiv zur Schau stellen, waren bei den Ardipithecus-ramidus-Männchen die Eckzähne reduziert. »Das heißt, wenn sie lächelten - wie männliche Menschen heute - signalisierten sie vermutlich eine Zusammenarbeit«, meint Lovejoy.
Die Unterschiede in der Hirnchemie könnten weitere evolutionäre Veränderungen in Gang gesetzt haben, darunter die Entwicklung des Paarungsverhaltens und der Sprache. Laut der von den US-Forschern entworfenen »neurochemischen Hypothese über den Ursprung der Hominiden« paarten sich nach der Umstrukturierung des Gehirns immer mehr Frauen mit Männern, die zuverlässig und weniger aggressiv waren. Dadurch wurde möglicherweise die soziale Monogamie befördert. Zugleich hatten Männer, die gut mit anderen Männern zusammenarbeiteten, mehr Erfolg bei der Jagd, bei welcher sie auch das Know-how für die Werkzeug- und Waffenherstellung miteinander teilten. Das wiederum löste einen weiteren Schub in der Entwicklung des Gehirns und der Sprache aus.
Ob höhere Dopaminspiegel im Gehirn das menschliche Sozialverhalten tatsächlich in der geschilderten Weise verändert haben, kann derzeit nur gemutmaßt werden. Denkbar wäre auch, dass die Entwicklung eines dopamindominierten Striatums lediglich der Nebeneffekt einer anderen Anpassung war. Neue Erkenntnisse erhoffen sich die US-Forscher von einer Untersuchung der Gehirne von Schimpansen und Bonobos. Während Schimpansen (pan troglodytes) häufig ein aggressives und unkooperatives Verhalten zeigen, sind Bonobos (pan paniscus) bekannt für ihre Friedfertigkeit sowie ihre Bereitschaft, Nahrung freiwillig mit Artgenossen zu teilen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Unterschiede mit divergierenden Dopamin- und Acetylcholin-Spiegeln im Gehirn beider Schimpansenarten zusammenhängen. Gelänge ein solcher Nachweis, würde das die neue Theorie zweifellos stützen.
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