Die Frau im Schrank

Lucero Alanís: »Das Margaritenkloster« ist surreal, düster, sehnsuchtsvoll

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Würden wir ihr in Wirklichkeit begegnen, wären wir zurückgewiesen durch ihren Blick. Was mit ihr los ist? Es würde mehr als eine Krankheitsbezeichnung dafür geben: Anorexie, Bulimie, Schizophrenie, Hysterie, Nymphomanie - alles, was die Medizin an Benennungen hat für solches Unglück. Aber ist es denn ein Unglück? Wir können es nicht erfahren, sie spricht nicht mit uns.

In ein geschlossenes weißes Zimmer mit gepolsterten Wänden ist sie gesperrt, wohl weil sie sonst was täte, das Angst machen müsste. Indes, wann immer sie will, kann sie entweichen. Nackt geht sie durch den Garten, auf der Suche nach dem »Einhorn«, und »eine riesige blaue Raupe, so groß wie eine Katze«, folgt ihr überallhin.

Ein befremdlicher Text zunächst. Je weiter man liest, umso stärker vermag er zu fesseln. Was vor allem erstaunt, ist die Gabe von Lucero Alanís, immer wieder neue Bilder und Worte zu finden für einen Zustand, der ausweglos sein könnte.

Indes: »Ich gebe der Wirklichkeit einfach einen Hauch Kunst.« Dieser Satz ist ernst zu nehmen - nicht nur als Bekenntnis dieser seltsamen Ich-Erzählerin, die uns mal als kleines Mädchen, mal als ungebärdige Klosterschülerin, mal als revoltierende Patientin gegenübertritt und immer wieder behauptet, sich in einen Schrank zu flüchten. Was hier durch sie so traumhaft dargestellt wird, das ist die Frage, die einen beim Lesen, wie gesagt, erst befremdet, dann aber in sich selbst hineinhorchen lässt. Denn ohne dieses Mitfühlen aus eigener Erfahrung (die natürlich auch aus Büchern stammen kann) wird sich der Roman nicht entschlüsseln.

Lucero Alanís, 1947 geboren, lebt in Guadalajara, Mexiko. Eine Dichterin: Die Erzählerin dieses Romans ist ein lyrisches Ich. Sie spricht von Versehrtheit, von Verletzung, je schlimmer, umso verhohlener. Erschreckend, wie sich in dieser jungen Frau Sensibilität mit Grausamkeit paart. Was mag sie alles getan haben - oder geschah es nur in ihrer Vorstellung? -, was sie nur andeutet oder verschweigt? Was ist ihr widerfahren?

Christiane Quandt, die als kongeniale Übersetzerin tiefer als andere in die luzide Poesie dieser Prosa eingetaucht ist, nennt als Quelle des Buches »Erzählungen von Erlebnissen, die der Autorin Lucero Alanís auf ganz unterschiedlichem Wege zugetragen wurden; sämtlich Geschichten von Frauen, die in Mexiko normalisierte und gesellschaftlich noch immer nicht konsequent sanktionierte Gewalt erleben … Häusliche Gewalt, sichtbar an grün und blau geschlagenen Gesichtern, Eifersucht, die bis zur Freiheitsberaubung und darüber hinaus geht, sexueller Missbrauch im Privaten und in öffentlichen Einrichtungen - hier sind es die Klosterschule und die Psychiatrie.«

Das ist das Fassliche. Beim Lesen versucht man, es hervorzuziehen. Denn Lesen bedeutet hier Erraten. Aber darunter liegt noch eine Ebene: Befreiung durch Fantasie und niemandem zugängliche Träume. Aufruhr, ja Übermacht über das Männliche, das hier nicht verneint wird, keineswegs, sondern von Sehnsucht umhüllt. Die blonde Schwester wird beneidet, weil sie des Vaters Liebchen ist. »Tante Susana« wird bewundert, die »nackt durch die Straße geht«. Mit einer keuschen Klosterschülerin haben wir es hier nicht zu tun, eher mit einer Frau, die den »Minotaurus« ersehnt und davon eben nur so sprechen kann, wie sie es tut.

Mitunter steht am Ende eines Absatzes ein einsames »und«. Stockende Stimme, romantische Sehnsucht. Ein Trauma, das nicht mehr heilt.

Lucero Alanís: Das Margaritenkloster. Roman. Aus dem mexikanischen Spanisch von Christiane Quandt. Ripperger & Kremers, 103 S., geb., 14,90 €.

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