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Die Wahl der Qual

Fortgesetzte Wirtschaftskrise, zerrüttetes Parteiensystem, rassistisches Klima - die Parlamentswahl in Italien könnte kaum schlechtere Vorzeichen haben

  • Paola Giaculli
  • Lesedauer: 11 Min.

Italien ist in einen rechtsextremen und rassistischen Sog geraten. Anders sind manche Kommentare nach dem Terroranschlag eines Neofaschisten auf schwarze Menschen in Macerata vor wenigen Wochen nicht zu erklären. »Wie kann man einfach auf der Straße so herum schießen? Der hätte wohl jemanden treffen können«, hieß es da zum Beispiel. Die sechs Menschen aus Afrika, die Luca Traini verletzt hatte, werden offensichtlich nicht als Menschen angesehen. Der Hass und die Wut scheinen sich inzwischen überall verbreitet zu haben.

Die rassistische Politik der aktuellen Regierung hat dazu beigetragen, dass die Städte, sogar jene mit langer antifaschistischer Tradition wie Bologna, im Wahlkampf zu Arenen für faschistische Gruppierungen geworden sind. Die Polizei verteidigt die rechtsextremen Veranstaltungen und greift linke Proteste an. Fast wie in den 70ern tragen Faschisten und Antifaschisten offen Kämpfe aus – aber es gibt keine starke Linke mehr, die die Demokratie vor der rechtsextremen Gefahr schützen kann. Nach einem solchen Anschlag wie in Macerata wäre die Reaktion im Lande damals viel massiver, prompt und spontan gewesen, als es jetzt der Fall war.

Dazu kommt: Die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert sich zusehends, während Premier Paolo Gentiloni von Wiederaufschwung und niedriger Arbeitslosigkeit spricht. Den unbefristeten Arbeitsvertrag gibt es de facto nicht mehr seit der Einführung des sogenannten Jobs Act noch unter Matteo Renzi. Auch gut gebildete Jugendliche finden nur gelegentliche und prekäre, nicht sozialversichungspflichtige Jobs. Die Regierungserzählung ist schwer nachvollziehbar angesichts der Hunderten von Menschen, die tagtäglich ihren Job verlieren, nicht zuletzt weil Großkonzerne ihre Betriebe nach Osteuropa verlagern. So wird auch das staatlich subventionierte Embraco (Whirpool) bei Turin in die Slowakei ziehen und über 500 Beschäftigten kündigen, trotz voller Auftragsbücher.

Wirtschaftsminister Carlo Calenda zeigt sich empört und beschwert sich bei EU-Kommissarin Margrethe Vestager wegen unfairer Konkurrenz. Aber auch inländische Unternehmen verlagern bereits seit Jahrzehnten ihre Betriebe in Niedriglohnländer in- und außerhalb der EU. In den letzten zehn Jahren hat Italien so ein Viertel seiner Produktionskapazität verloren. Nicht zuletzt grassieren Organisierte Kriminalität und Korruption in einem Land ohne Zukunft. 2016 sind geschätzte 285.000 Menschen ausgewandert. Zwischen 2008 und 2016 waren es offiziell 624.000. Ein großer Teil davon sind junge, gut gebildete Menschen, die meistens nach Großbritannien und Deutschland gezogen sind.

Zerrüttetes Parteiensystem

Das parteipolitische System ist längst zerrüttet, und de facto existieren kaum noch Parteien im Sinne von politischen Organisationen, die über Programm und Gremien mit Entscheidungsprozessen verfügen und vor Ort verankert sind. Das neue Wahl(un)recht verschärft Ungleichgewichte. Ca. 36 Prozent der Sitze werden durch Direktmandate besetzt, 64 Prozent durch ein Proporzsystem. Auf diesen Wahllisten dürfen auch Direktkandidat*innen stehen und zwar in fünf unterschiedlichen Wahlkreisen. Die Vergabe einer Zweitstimme ist nicht möglich.

Die Parteichefs konnten selbst entscheiden, wer kandidieren und aussichtsreiche Plätze bekommen soll. Ex-Premier Matteo Renzi, Chef der Partito Democratico (PD) soll persönlich im Laufe eines Wochenendes die Wahllisten für ganz Italien zusammengebastelt und seine treusten Genoss*innen darauf verteilt haben. Seit der herben Niederlage beim Verfassungsreferendum Ende 2016 sinkt die PD jedoch in den Umfragen (22 bis 23 Prozent). Aber für Renzi scheint es nicht so wichtig zu sein, die Wahlen zu gewinnen. Es wird allgemein geschätzt, dass er gerne eine Koalition mit Berlusconi bilden würde.

Partito Democratico

Im Gegensatz zur medialen Wahrnehmung in Deutschland ist die PD weder links noch mitte-links, eher mittig bzw. mitte-rechts einzuordnen. Angesichts der Pattsituation, die wahrscheinlich auch diesmal eintreten wird, regiert sie seit 2013 in einer Koalition mit einer kleinen Mitte-Rechts- Partei, einer Abspaltung der Forza Italia von Berlusconi (Premier Enrico Letta bis 2014, Matteo Renzi bis 2016, Paolo Gentiloni seit 2017).

Nach den grundlegenden Brüchen, die Renzi in der Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Sozialpolitik durchgesetzt hat, betreibt die Regierung Gentiloni eine autoritäre Sicherheitspolitik. Innenminister Marco Minniti (PD), ehemaliges KPI-Mitglied, führte letztes Jahr per Dekret »Law and Order«-Maßnahmen für Stadtordnung und Migrationspolitik ein. Dadurch verloren Geflüchtete das Recht auf Einspruch, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird. Danach dürfen Bürgermeister entscheiden, ob Obdachlose in ihren Städten sich aufhalten dürfen bzw. ob gebettelt werden darf.

Im Sommer 2017 wurde das sogenannte Abkommen mit Libyen abgeschlossen, um mit von Italien aufgerüsteten Milizen den Geflüchteten den Weg im Mittelmeer zu versperren. Die Seenotrettungsorganisationen wurden kriminalisiert, libysche Kräfte griffen sie mehrmals an. Minniti drohte mit einem Verbot einer Demo gegen Rassismus und Faschismus eine Woche nach dem Terroranschlag in Macerata, während die rechtsextremen Gruppen unbehelligt ihre Veranstaltungen abhalten konnten. Zum Schluss konnten sich die Demonstrant*innen (30.000) durchsetzen, aber leider hatten wichtige progressive Organisationen und Gewerkschaften wie die CGIL ihre offizielle Teilnahme auf Aufforderung des PD-Bürgermeisters von Macerata abgesagt.

Laut Minniti sei der Faschismus tot. Er meint vielleicht indirekt damit, dass der Antifaschismus keinen Sinn mehr habe. An einer Großdemonstration gegen Faschismus und Rassismus in Rom Ende Februar beteiligten sich dann aber ca. 100.000 Menschen. Etliche Mandatsträger bzw. Kandidaten auch der PD sind außerdem in Skandale wegen Korruption, Bankenbankrott und dubiose Machenschaften verwickelt. Ähnlich wie bei der Forza Italia scheinen einige ihre (Klientel)macht vor Ort zu nutzen. Die immer tiefere Vermischung von Politik und Kriminalität führt zur Unglaubwürdigkeit und daher zu einem immer stärker wachsenden Misstrauen der Menschen. Noch gefährlicher: Es trägt zu einer Korruption der Seelen und einer brutalen Verrohung der Gesellschaft bei.

Das linke Lager

»Gehst Du wählen? Wie wählst Du?« Das sind die üblichen Fragen, die sich viele Linke kurz vor der Wahl in Italien gegenseitig stellen. Damit ist fast alles zur Verwirrung gesagt, die im Lande zurzeit herrscht. Der jetzige Urnengang scheint eher eine Wahl der Qual als eine Qual der Wahl zu sein, insbesondere für die Linken. Obwohl eine erkennbare, konkrete Alternative mehr denn je notwendig wäre, war die Linke in den letzten zehn Jahren nicht in der Lage, diese aufzubauen - diesmal ist sie es auch nicht.

Die Chancen, aus ihrem Zustand der Bedeutungslosigkeit herauszukommen, scheinen noch immer gering zu sein. Die linke Wählerschaft wird sich wieder spalten, enthalten, vielleicht ungültig wählen. Viele denken, egal, wie sie sich verhalten, ihre Stimme wird an der desolaten Lage kaum etwas ändern können.

Vor einem Jahr traten PD-Parlamentarier, Altgenossen wie Ex-Premier Massimo D’Alema und Ex-Parteichef Pier Luigi Bersani nach einem schweren Konflikt mit dem autoritären Stil Renzis aus der PD aus. Sie hatten aber bis auf einige Ausnahmen die unsozialen und unpopulären Reformen Renzis mitgetragen, deshalb scheint diese Abspaltung eher persönliche Gründe zu haben. Im Dezember 2017 bildeten sie mit der Sinistra Italiana (SI, Italienische Linke, ehem. SEL, Linke, Ökologie, Freiheit) und anderen früheren PD-Abtrünnigen das Wahlbündnis Liberi e Uguali (LeU, Freie und Gleiche, 5 bis 7 Prozent in den Umfragen).

Senatspräsident Pietro Grasso trat auch aus der PD aus, schloss sich LeU an und wurde gleichzeitig als Chef akklamiert. Parlamentspräsidentin Laura Boldrini (früher SEL) kandidiert ebenso für dieses Bündnis. Es wird von der größten Gewerkschaftsdachorganisation CGIL unterstützt, die durch die Politik und das Agieren Renzis bewusst ausgegrenzt wurde.

Bei vielen linken Wähler*innen ist LeU aber keine glaubwürdige Option. Die ehemaligen PD-Vertreter*innen der LeU haben kein Zeichen der Reue gezeigt. Grasso will die inhumane Rentenreform der »Expertenregierung« Mario Montis (2011-2013) beispielsweise nicht unbedingt streichen. Viele befürchten außerdem, dass alte Dritter-Weg-Genossen à la Schröder und Blair wie D’Alema erneut kandidieren in der Hoffnung, die PD zurückzuerobern, wenn diese Renzi in die Wüste schickt.

LeU wird von vielen Linken als eine Konstruktion »von oben« angesehen. Unklar ist das Verhältnis zu einer möglichen Koalition mit der PD. Einige bedauern, dass SI aus dem Versammlungsprozess für den Aufbau einer einheitlichen Linken in Italien nach dem Referendumserfolg gegen die Verfassungsreform am 4. Dezember 2016 austrat. Dieser wurde von Persönlichkeiten wie Kunstprofessor Tomaso Montanari initiiert. Gemeinsam mit der Juristin Anna Falcone, die aber jetzt für die LeU kandidiert, hatte er die Komitees für das Nein im Referendum und zur Umsetzung der Verfassung ins Leben gerufen. Der Aufbauprozess, der bewusst auf den Zusammenschluss von allen Linken zielte, die nicht (mehr) mit der PD zu tun haben wollten, wurde dann unterbrochen.

Alle Macht dem Volke

Angesichts der damit entstandenen Leerstelle beschloss eine Gruppe von ehrenamtlichen, außerparlamentarischen Linken des besetzten ehemaligen psychiatrischen Gefängnisses (»Je so‘ pazzo«, ich bin verrückt) im November 2017 selbst anzutreten. Daraus ist das bunte Linksbündnis Potere al Popolo (PaP, Alle Macht dem Volke) entstanden, das u.a. von Rifondazione Comunista unterstützt wird. Angesehene Künstler*innen und Intellektuelle rufen zur Wahl von PaP auf, Unterstützung kommt auch von Jean-Luc Mélenchon, der auf einer sehr gut besuchten Wahlkampfveranstaltung in Neapel sprach, von Ken Loach und Momentum.

Das Spektrum der Bewegungen und Bürgerinitiativen ist breit (u.a. Eurostop). Gemeinsam haben sie die Ablehnung der »Strukturreformen« und der neoliberalen Austeritätspolitik. In Europa plädieren sie für eine stärkere Zusammenarbeit der Länder Südeuropas. Ihre Kandidat*innen wurden durch Versammlungen vor Ort gewählt. In den letzten Monaten ist die Zustimmung gewachsen (bis zu 2,7 Prozent) und könnte über die Drei-Prozent-Hürde steigen. Die Sprecherin Viola Carofalo zeigt sich zuversichtlich. PaP hat vor, nachhaltig eine linke Kraft aufzubauen.

Movimento 5 Stelle (M5S, Fünf-Sterne-Bewegung)

Sie ist die beliebteste Zielscheibe von Medien, PD und Berlusconi. Seitdem bekannt wurde, dass nicht alle Abgeordneten die Hälfte ihrer Monatsdiäten in einen freiwilligen Fonds zur Unterstützung von kleinen Unternehmen (ca. 23 Mio. statt 24 Mio.) eingezahlt hatten, wird ihnen – neben Inkompetenz und Unerfahrenheit – Unglaubwürdigkeit vorgeworfen.

Im Wahlkampf hat sich M5S mit ihrem jungen Spitzenkandidaten Luigi Di Maio von der Anti-System-Einstellung verabschiedet, um sich sogar bei Finanzinvestoren der City of London beliebt zu machen. Sie zielt auf Kompetenz, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit, hat ihre Ministervorschläge bereits vorgelegt und schließt die Zusammenarbeit mit anderen Parteien bei inhaltlichen Gemeinsamkeiten nicht aus. Die Fünf-Sterne-Kandidat*innen wurden durch eine nicht unbedingt zuverlässige Online-Wahl ermittelt. Zu den Voraussetzungen gehörte, nicht vorbestraft zu sein, seit 2009 nicht bei anderen Parteien kandidiert zu haben. Einige dubiose Kandidat*innen wurden aus der Partei ausgeschlossen, auf den Wahllisten werden sie aber weiter stehen müssen.

Der Euro-Austritt sei in der aktuellen Lage nicht mehr angebracht. Eine Vermögenssteuer wird nicht mehr erwähnt. Ihr Vorschlag für ein Bürgereinkommen (780 Euro) ähnelt Hartz IV. Der Fiskalpakt und die Schuldenbremse werden in Frage gestellt, aber die Staatsverschuldung soll um 40 Prozent in zehn Jahren reduziert werden. Die M5S will das Steuersystem regressiv umgestalten (Flat Tax). Die Rentenreform soll abgeschafft bzw. revidiert werden (Mindestrente bei 780 Euro).

Bei der Migrationspolitik nimmt die Partei jetzt lieber den harten Kurs. Darum sind sie für (viele) Linke anders als 2013 keine Option mehr. Einige werden sie trotzdem wegen ihrer Ablehnung von Privatisierungen und Großbauprojekten, ihrer Oppositionsrolle im Parlament, ihres Engagements gegen die Korruption oder einfach aus taktischen Gründen wählen.

M5S liegt in der letzten Umfrage vor zwei Wochen als stärkste Partei bei 27 bis 28 Prozent in Führung. Sie können auf die Zustimmung vieler Wähler*innen aus dem Süden und unter jungen Menschen zählen, obwohl zwei Drittel der 35-Jährigen bei den letzten Umfragen Mitte Februar noch unentschlossen waren. Insgesamt waren es 45 Prozent der Wahlberechtigten.

Lega

Die fremdenfeindliche Lega Nord, die in den 80er Jahren mit Sezessionsambitionen vom Süden entstand, hat sich in den letzten Jahren unter Matteo Salvinis Führung in eine rechtsextreme Partei gewandelt. Er strich den Begriff »Nord« aus dem Logo – in der Hoffnung, auch im Süden Stimmen zu gewinnen. In den letzten Umfragen liegt die Lega bei 13 bis 14 Prozent, andere rechtsextreme Gruppierungen wie Casa Pound und Forza Nuova bei knapp einem Prozent.

Die Lega tritt in einem Wahlbündnis mit einer rechten Formation namens Fratelli d’Italia (Brüder Italiens, bei 5 Prozent) und mit der Forza Italia des »wiederauferstandenen« Silvio Berlusconi an, der zwar nach einer Verurteilung wegen Steuerbetrugs nicht kandidieren darf, aber im großen Stil Wahlkampf machte. Paradox mag es erscheinen, dass ausgerechnet Berlusconi jetzt als »großer Staatsmann und großer Europäer« von Manfred Weber (CSU, Chef der Europäischen Volkspartei) gelobt wird. Auch Merkel ist der Meinung, er sei ein guter Vertreter dieser Partei im EU-Parlament. In Brüssel zeigte sich Berlusconi eher zu einer GroKo mit Renzi als zu einer Koalition mit seinen eigenen Mitte-Rechts-Verbündeten geneigt. Denn er teilt die eurofeindlichen Positionen von Salvini nicht, die sowieso bei seiner politischen Rehabilitierung nicht gerade helfen würden. Berlusconi erklärte Juncker, der ihn als einen alten Freund herzlich empfangen hat, dass er die »europafeindlichen Populisten« der Fünf-Sterne-Bewegung verhindern will.

Seine Straftaten und Versprechen in Steuer- und Rentenfragen interessieren kaum jemanden. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Rom lächelte Weber den neuen Hoffnungsträger der europäischen Konservativen an, während dieser seine vulgären Witze erzählte. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen spielt Berlusconis krimineller Lebenslauf medial kaum eine Rolle. Migrationspolitik ist selbstverständlich ein Thema. Berlusconi spricht von »600.000 illegalen Migranten als soziale Bombe«.

Das neue Wahlrecht

Das nun erstmals zur Anwendung kommende Wahlrecht wurde von der PD initiiert, Forza Italia und die Lega stimmten dafür. Das verfassungsrechtlich bedenkliche, extrem komplizierte System wurde insbesondere gegen die M5S konzipiert. Die Stimmen der in einem Wahlbündnis einbezogenen Parteilisten, die kaum Chancen haben, 3 Prozent zu erreichen, fallen der größten Partei des Bündnisses zu. Die M5S tritt anders als PD und Forza Italia allein an. Kaum ein Bündnis geschweige denn eine Partei scheint aber die nötigen Stimmen für eine parlamentarische Mehrheit (40 Prozent) zu haben. In der letzten Umfrage hatte Mitte-Rechts (insgesamt bei 35 Prozent) die Nase vorne.

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