Realität und Rollenspiel
Milena Michiko Flašar
Auf die Idee muss man erst einmal kommen! Schauspieler vermieten sich selbst und spielen abgängige Familienangehörige. Die fehlen zu einem wichtigen Anlass aus irgendeinem Grund und werden durch »Faker« ersetzt. Die Wiener Autorin Milena Michiko Flašar hat auf diesen hübschen Einfall einen kleinen Roman gegründet: »Herr Katō spielt Familie«. Der Titelheld ist nun weder Schauspieler noch in einem Alter, in dem man solchen professionellen Schabernack gern oder auch nur zum Geldverdienen betreibt. Er ist Rentner, und seine etwas jüngere Frau - sie wird im Verlauf des Romans 58 Jahre alt - leidet darunter, dass er keine wirkliche Beschäftigung mehr hat.
Das Ganze spielt im Vorort einer japanischen Stadt - die 37-jährige Autorin ist Tochter einer Japanerin und eines Österreichers. Sie verhilft ihrem Titelhelden zu einigen Auftritten im Rahmen des Programms der Agentur »Happy Family«. Eine von deren Mitarbeiterinnen lernt Herr Katō auf dem Friedhof kennen, den er aus Langeweile besucht. Mie heißt diese Anleiterin, die Katō anwirbt, ihm Aufträge erteilt und ihn in die Details einweist. Alles wirkt ganz authentisch, die Auftraggeber wissen ja Bescheid.
Um diesen Kern garniert die Autorin amüsante Einblendungen aus dem japanischen Familienleben der Katōs. Im ungezwungenen Wechselspiel setzt sie Szenen aus den Aufträgen der Agentur »Happy Family« solchen aus der nicht gefakten, erschlaffenden Ehe des zum Hauptdarsteller gewordenen Titelhelden entgegen. Seine Frau besucht - eine Initiative gegen das Älterwerden - einen Ballettkurs für Senioren. Sie weiß nichts von dem Nebenjob ihres Gatten, spürt aber dessen neue Beschäftigung und wirkt mit an der Stimmungsaufhellung im Hause Katō. Die Kinder sind längst aus dem Haus, lassen selten etwas von sich hören - wie das eben so ist. Überhaupt: Flašar skizziert mit feinem Pinsel Normalzustände, und zwar wirkliche wie auch gespielte. Darin entwickelt sie ganz allmählich die Zweifel beim Publikum, ob es überhaupt einen Unterschied gibt zwischen der Realität und den gespielten Rollen. Die Selbsttäuschung, die Lebenslüge, ja der Betrug stehen wie zum Verwechseln neben Wahrheit und Wirklichkeit.
Zum Glück weist die Autorin nicht mit dem Zeigefinger auf dieses Ergebnis der Geschichte. Sie lenkt eher davon ab, lässt dem Leser die Entdeckerfreude. Er ist ja das ganze Buch über gut unterhalten worden. Den Ernst dieses Arrangements aus Realität und Rollenspiel hat die Autorin unter dem leichten Ton ihres Wohlfühlromans vielleicht ein wenig zu gut verborgen. Aber die Diskretion gegenüber ihren Geschöpfen tut gut.
Viele werden die sympathische Schreibweise der Autorin bereits in ihrem Roman »Ich nannte ihn Krawatte« schätzen gelernt haben. Das sind die »weichen« Qualitäten auch ihres neuen Buches. Man traut ihr aber auch zu, dass sie noch »höher« an ein Thema herangehen kann.
Milena Michiko Flašar: Herr Katō spielt Familie. Roman. Wagenbach, 170 S., geb., 20 €.
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