Früherer SS-Mann laut Anwalt tot

»Buchhalter von Auschwitz« laut Schreiben seines Rechtsvertreters mit 96 Jahren gestorben

  • Peer Körner
  • Lesedauer: 4 Min.

Hannover. Der als »Buchhalter von Auschwitz« bekanntgewordene frühere SS-Mann Oskar Gröning soll nach einem Schreiben seines Anwaltes tot sein. Der 96-Jährige sei danach bereits am Freitag in einem Krankenhaus gestorben, sagten dazu Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums und der Staatsanwaltschaft Hannover am Montagabend. Eine unabhängige Bestätigung lag zunächst nicht vor. Zuvor hatte der »Spiegel« darüber berichtet. »Ich möchte dazu nichts sagen, es aber auch nicht dementieren«, sagte Grönings Anwalt Hans Holtermann auf Anfrage. Eine Sterbeurkunde liege noch nicht vor, hieß es beim Justizministerium.

Gröning war im Lüneburger Auschwitz-Prozess wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt worden. Das Landgericht verhängte im Juli 2015 eine Haftstrafe von vier Jahren. Der damals 94-Jährige hatte unter anderem eingeräumt, in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Geld aus dem Gepäck der Verschleppten gezählt und weitergeleitet zu haben.

Jahrzehntelang waren die in Auschwitz am Holocaust Beteiligten nicht zur Verantwortung gezogen worden, wenn sie zwar wie Gröning Rad im Getriebe waren, aber nicht selbst getötet hatten. Die Gerichte verlangten den Nachweis einer bestimmten konkreten Tatbeteiligung. Das Landgericht entschied, auch das Verwalten der Gelder der Verschleppten und das Bewachen ihres Gepäcks sei Beihilfe gewesen. »Dieses Urteil hat Rechtsgeschichte geschrieben«, sagte damals Nebenkläger-Anwalt Thomas Walther.

Der Richterspruch von Lüneburg war die erste Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in einem Lager seit dem Verfahren gegen den früheren Sobibor-Aufseher John Demjanjuk 2011. Doch Demjanjuk starb, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

Mit einem Kollegen vertrat Walther in Lüneburg rund 50 Nebenkläger, die meisten waren Überlebende von Auschwitz-Birkenau. Gröning bestätigte vor Gericht ihre Berichte über das Grauen im Vernichtungslager. »Es geht mir nicht um die Strafe, es geht mir um
das Urteil, die Stellungnahme der Gesellschaft«, erklärte die Überlebende Eva Pusztai-Fahidi damals. Von einer fast heilenden Wirkung des Prozesses sprach Walther. Im Fall Gröning bestätigte der Bundesgerichtshof im September 2016 erstmals höchstrichterlich eine Verurteilung wegen Beihilfe zum massenhaften Mord in Auschwitz.

»Den Nebenklägern war stets die Feststellung der verantwortlichen Schuld am Tod ihrer Familien in Auschwitz wichtig«, betonte Walther am Montagabend. »Eigenes Sterben und der Tod Grönings ändern daran nichts. Der vom Bundesgerichtshof bestätigte Schuldspruch des Schwurgerichts Lüneburg besteht über die Grenzen des Lebens hinaus.«

Auch das Internationale Auschwitz Komitee würdigte am Montag das Lüneburger Urteil und dessen Bestätigung. Das bleibe für die Überlebenden »eine große Genugtuung und ein später Ausdruck deutscher Suche nach juristischer Gerechtigkeit und historischer Ehrlichkeit gegenüber ihren ermordeten Familien«, erklärte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner. Gröning sei für sie einer der ganz wenigen Angehörigen der Auschwitz-SS gewesen, »der sich auf den Weg gemacht hatte, öffentlich die Wahrheit über Auschwitz zu sagen und sich selbst und die deutsche Gesellschaft mit seinen Erinnerungen zu konfrontieren«.

»Gerade diese Haltung, die dennoch im Blick auf seine persönliche Verantwortung und seine Entscheidungen halbherzig blieb, macht noch einmal deutlich, dass der übergroße Teil der SS-Täter und Mittäter von Auschwitz weder ein Unrechtsempfinden besessen hat, noch sich je vor einem deutschen Gericht hat verantworten müssen«, so Heubner.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum bedauerte, dass Gröning nicht mehr in Haft kam. Das wäre symbolisch wichtig gewesen, sagte dessen Leiter Efraim Zuroff. Das Schicksal habe es gewollt, dass er seiner gerechten Strafe entgangen sei. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum setzt
sich etwa gegen Antisemitismus und Holocaust-Verleugnung ein. Nachdem der Rechtsweg ausgeschöpft war, richtete Gröning zuletzt ein Gnadengesuch an Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza (CDU), eine Entscheidung stand bevor. Holtermann hatte zuvor über mehrere Instanzen hinweg einen Haftantritt zu verhindern versucht. Gröning sei nach Auffassung eines Sachverständigen nicht haftfähig, erklärte er - ohne Erfolg. Eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe wurde Ende Dezember vergangenen Jahres unter anderem mit Verweis auf die Schwere der Taten abgewiesen.

Gröning war seit Herbst 1942 in der sogenannten Häftlingsgeldverwaltung eingesetzt worden, weil er eine Banklehre gemacht hatte. 1944 wechselte er in eine Front-Einheit. Nach dem Krieg lebte er mit Frau und Kindern in der Lüneburger Heide. Erst Mitte der 1980er Jahre öffnete er sich. Der britischen BBC schilderte Gröning, was er in Auschwitz gesehen und getan hatte. Er sah sich dabei als »Rädchen im Getriebe«.

Journalisten und Nebenkläger beschrieben den am 10. Juni 1921 in Nienburg an der Weser geborenen Gröning als jemanden, der lange die Frage seiner persönlichen Schuld umkreiste, ohne sich ihr wirklich nähern zu können. »In Auschwitz durfte man nicht mitmachen«, fasste
das Gericht in Lüneburg zusammen. Auch Gröning hatte den Satz von einem Opfer-Anwalt in seinem Schlusswort wiederholt.

Er habe die Überlebenden angesichts der Dimension der in Auschwitz und anderswo verübten Verbrechen nicht um Vergebung bitten können, hieß es in einer von der Verteidigung zwei Wochen vor dem Urteil verlesen Erklärung Grönings. Sie schloss mit dem Satz: »Um Vergebung kann ich nur meinen Herrgott bitten.« dpa/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.