Reisen, ohne anzukommen

Anja Kampmann zeichnet die Suchbewegung nach dem eigentlichen Leben nach

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Nachdem im vorigen Jahr ihr viel beachteter Lyrikband »Proben von Stein und Licht« erschienen ist, liefert die 1983 geborene Anja Kampmann nun ihr Romandebüt. Aber Roman? Es ist ein unförmiger, ein unförmlicher Text - der Prosatext einer Lyrikerin, könnte man sagen: randvoll mit Wahrnehmungen und Beobachtungen, mit Detailaufnahmen und Momentbildern, aus denen sich mit der Zeit doch so etwas wie eine Bewegung abzeichnet. Die Suchbewegung eines »transzendental Obdachlosen« (Georg Lukács), eines rundum unbehausten Menschen.

Mal heißt er Waclaw, mal Wenzel. Er stammt aus Polen, hat die Welt gesehen, jedenfalls perspektivisch reduzierte Ausschnitte von ihr, in der Regel von tief unten, von da, wohin ihn eine Vielzahl von odd jobs oder Brotarbeiten - Erntehelfer, Lkw-Fahrer oder Arbeiter auf Bohrinseln - verschlagen hat. Irgendwann erfährt man, dass er 52 Jahre alt ist. Doch da befindet er sich bereits auf jener Reise, die dem Text seine Bewegung gegeben hat. Denn in einer stürmischen Nacht verliert Waclaw seinen besten Freund und Kumpel Mátyás, mit dem ihn eine intensive sechsjährige Zeit auf den verschiedensten Öl-Plattformen der Welt verbunden hat. Eine weitere, tiefergehende Verunsicherung befällt nun den Protagonisten. In immer wieder hingetupften Bemerkungen und Andeutungen erfahren wir über Waclaw, dass er eine Partnerin hat (Milena, die ihn freilich nicht wiedersehen möchte) und dass seine Wurzeln irgendwo zwischen dem Ruhrgebiet und Polen liegen - wenn man denn von Wurzeln überhaupt noch reden kann.

Nachdem Mátyás ihm abhandengekommen ist, begibt sich Waclaw auf die Reise, zunächst nach Budapest und in die ungarische Provinz, um etwas über seinen Freund herauszubekommen, dann - inzwischen hat der Text das Aussehen eines Roadmovies angenommen - zurück nach Malta, nach (Nord-)Italien und mit einem alten Fiat-Pickup über die Alpen ins Ruhrgebiet und schließlich an die polnische Ostseeküste, wo der Vater, an einer Staublungenkrankheit leidend, noch für den letzten Lebensrest ein Strandhaus hat bauen lassen.

Was ist das Ziel dieser Suchbewegungen, der Fahrt zu sich selbst? In Abwandlung einer Formulierung des Schriftstellers und Extremläufers Günter Herburger lässt sich auch fragen: »Wie viele rennen? Wer zu sich zurück?« Waclaws zwanghaftes Fahren und Reisen dient dazu, hinter etwas zu kommen. Hinter dasjenige, von dem man behaupten könnte, dass es - emphatisch gesprochen - das Leben sei. Aber immer wieder öffnen sich nur Spalten und geben numinose Ansichten frei, immer wieder blitzt da etwas auf, während das Leben selbst schon wieder woanders ist.

Jeder müsse, ruft ein italienischer Lkw-Fahrer Waclaw einmal zu, seinen Weg gehen, »aber er glaube nicht, dass der Mensch in diesen Dingen eine Wahl habe. Gott erschaffe die Welt jeden Tag neu, und um das zu begreifen, sei eben die Nacht geschenkt worden.« Ebenso, scheint es, folgt Waclaw dieser Bestimmung, um Verlustbilanzen zu ziehen: »Die wenigen Brocken Polnisch«, vom Vater gelernt, stammen von einer »Sprache, die nirgendwo hingehörte, für die es keinen Ort gab, nur den Geruch von Quitten, die im Backofen trockneten«. Der Ruhrpott, aber auch die vielen anderen Städte und Stätten sind nicht wirklich die »Tür, die man aufstoßen musste, damit dahinter das eigentliche Leben begann«.

Waclaw hat etwas von der Gestalt des Fremden an sich, den der Soziologe und Philosoph Georg Simmel einmal als denjenigen beschrieben hat, der heute kommt und morgen bleibt. Er ist der Ausgeschlossene, der deshalb aber die Dinge und Verhältnisse genauer wahrnimmt und vielleicht auch besser beschreiben kann - wie etwa im Text die Region seiner früheren Heimat, des Ruhrgebiets: »Er hatte andere große Städte gesehen, er fand sich darin zurecht, aber nicht hier. Hier war er nicht sicher, was all diese Orte noch verband, Autos, die sich in der Ferne stauten, als wäre es doch zu früh, um einfach weiterzufahren, als suchten sie noch etwas in diesem alten Dunkel, das nun begann.«

Ein wirklich beeindruckendes Romandebüt, das völlig zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist.

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Roman. Hanser, 352 S., geb., 23 €.

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