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- Arbeitszeitgesetz im Bundestag
Ins Uferlose
Der Bundestag debattiert über eine weitere Aufweichung des 8-Stunden-Tags
Mit einem eigenen Gesetzentwurf wärmt die FDP die Debatte um den 8-Stunden-Tag und die Ruhezeit gleich zu Beginn der Legislatur wieder auf. Der Vorschlag, über den am Donnerstag im Bundestag beraten werden soll, hat keine Chance auf Zustimmung, aber die Partei hält damit ein Thema am Köcheln, das aus Sicht von Gewerkschaften, Linken und auch Teilen der Sozialdemokraten ruhig weiter auf Eis liegen könnte. Sie waren sehr erleichtert, als ein ähnlicher Vorstoß der damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles im vergangenen Jahr scheiterte. Nun stehen mögliche Öffnungsklauseln für das Arbeitszeitgesetz erneut im Koalitionsvertrag mit der Union. Hier ist die Rede von »Experimentierräumen« für tarifgebundene Unternehmen, wo mittels Betriebsvereinbarungen insbesondere die Höchstarbeitszeit wöchentlich flexibler geregelt werden könnte. Oberste Priorität genießt das Vorhaben in der SPD allerdings nicht.
Die FDP will nun mit einem ausgearbeiteten Entwurf eine Blaupause vorlegen. Demnach soll den Tarifparteien erlaubt werden, nur noch ein wöchentliches Limit von durchschnittlich 48 Stunden und die Verkürzung der vorgeschriebenen Ruhezeit zu vereinbaren. »Niemand soll mehr arbeiten oder weniger Pausen machen müssen, aber die Einteilung soll freier als heute sein«, erklärte der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Johannes Vogel, der schon in seiner Zeit als Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP gegen das deutsche Arbeitszeitgesetz zu Felde gezogen war.
Bis zum Jahr 1860 umfasste eine typische Arbeitswoche bis zu 80 Stunden. Erst 1918 einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf den Acht-Stunden-Tag. In den folgenden Jahrzehnten kamen weitere Regelungen und Gesetze hinzu. Am 1. Juli 1994 trat das aktuelle Arbeitszeitgesetz in Kraft, das zahlreiche Abweichungen vom Grundsatz acht Stunden Arbeit und elf Stunden Ruhe zulässt. nd
Seit über Digitalisierung und Arbeit 4.0 debattiert wird, fahren Arbeitgeberverbände Angriffe auf diese Errungenschaft der Arbeiterbewegung - 1918 wurde der 8-Stunden-Tag erstmals in Deutschland Gesetz. Doch die geltenden Vorgaben seien nicht mehr auf der Höhe der Zeit, so die Behauptung. In weltweit tätigen Konzernen müsse man »über Zeitzonen hinweg« mit Mitarbeitern in Asien oder den USA kommunizieren. Und Arbeitnehmer müssten inzwischen auch mal abends ihre E-Mails abrufen und beantworten. Seit die Probleme bei der Vereinbarkeit von Beruf und Leben zu einem der am meisten diskutierten Themen geworden ist, haken auch hier die Arbeitgeber ein: So sei es durch die »starren Vorgaben« legal nicht möglich, dass Eltern früher gehen, um die Kinder von der Kita zu holen, und sich dafür abends noch mal an den Rechner setzen, behaupten sie. Auch Andrea Nahles argumentiert mit Pausen zur Kinderbetreuung und Heimarbeit am Abend.
Beim DGB hält man solche Beispiele für absurd. »Bei der Einhaltung der notwendigen Ruhezeiten ist nicht das Arbeitszeitgesetz das Problem, sondern die uferlosen Verfügbarkeitserwartungen der Arbeitgeber«, sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach dem »nd«. »Wer am Nachmittag früher gehen kann und dann am Abend noch E-Mails checkt, hat nur dann keine elf Stunden Ruhe, wenn mit solchen E-Mails vom Chef praktisch eine Nachtschicht angeordnet oder erwartet wird.« Gerade in digitalen Zeiten bräuchten Beschäftigte eine klare Grenze für die tägliche Arbeitszeit sowie Regeln für mobiles Arbeiten und Erreichbarkeit.
In der Tat wollen Beschäftigte mehr über Ort und Lage der Arbeitszeiten mitbestimmen. Doch ihre Erfahrung ist eine andere als die von Arbeitgeberseite erzählte Geschichte: Zum Teil ist der Job nicht so beschaffen, dass der 8-Stunden-Tag aufgesplittet werden kann. Oft scheitert der Wunsch aber auch an einer Präsenzkultur der Arbeitgeber. Homeoffice liegt seit Jahren stabil bei acht Prozent.
Ohnehin sind bereits jetzt viele Abweichungen möglich, betonen die Gewerkschaften. »Die Arbeitgeber tun so, als arbeiteten alle Beschäftigten in Deutschland von neun bis fünf. Fakt ist, dass rund ein Viertel auch am Abend und am Wochenende arbeitet oder in der Freizeit erreichbar sein muss«, sagt Buntenbach. Die DGB-Arbeitsmarktexpertin verweist zudem auf fast zwei Milliarden Überstunden, von denen eine Milliarde nicht bezahlt werde. Dazu kommen eine Vielzahl an flexiblen Arbeitszeitmodellen, die das Arbeitszeitgesetz zulässt - von Schichten über Gleitkonten oder Arbeitszeitkorridore. Wer hineinschaut, wird überrascht sein, wie groß die Spielräume bereits sind. Bis zu zehn Stunden Arbeit am Tag oder von elf auf neun Stunden verkürzte Ruhezeiten - das ist oft längst erlaubt, wenn es denn in einem bestimmten Zeitraum ausgeglichen wird. Fast alle Regeln lassen eine Vielzahl an Ausnahmen zu - für bestimmte Berufsgruppen, ob Krankenschwester, Busfahrer, Angestellte im Gastgewerbe, Rundfunkjournalisten oder Landwirte - oder für verschiedene Arbeitszeitmodelle.
Der DGB hält Experimente zur Flexibilisierung der Ruhezeit oder Verlängerung der täglichen Arbeitszeit für hochgefährlich. »Das erhöht den Druck auf die Beschäftigten, die ohnehin schon unter erheblichem Arbeitsstress stehen«, warnt Buntenbach. »Nach den Plänen von FDP und Arbeitgeberverbänden wäre es theoretisch legal, 15 Stunden am Tag arbeiten zu lassen.« Auch die Arbeitsmedizin widerspricht dieser Idee: Lange Arbeitszeiten machen krank. Die Konzentration sinkt und Unfälle nehmen zu. Bereits ab zwei Überstunden treten deutlich häufiger gesundheitliche Beschwerden auf, stellte der Arbeitszeitreport 2016 der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin fest.
Die Lockerung der Vorgaben würde mannigfache Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz nachträglich legalisieren. Bei mindestens jeder zweiten Betriebskontrolle (52,6 Prozent) wurde im vergangenen Jahr ein Verstoß festgestellt, wie eine aktuelle Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab. 2010 waren es noch 45,8 Prozent. Vermutlich hätten noch mehr als die über 10 000 Verstöße aufgedeckt werden können, hätten die Behörden häufiger nachgeschaut: Die Zahl der Kontrollen sank zwischen 2010 und 2016 um rund ein Viertel auf gut 19 000. »Wenn bei jeder zweiten Kontrolle ein Verstoß festgestellt wird, müssen Kontrollen gestärkt und keine Gesetze aufgeweicht werden«, sagt Susanne Ferschl, Sprecherin für Gute Arbeit der Linksfraktion.
Nach den bisherigen Überlegungen der Großen Koalition sollen nur tarifgebundene Betriebe mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeiten bekommen. Was wie eine Sicherung klingt, immerhin müssten die Beschäftigtenvertreter zustimmen, macht den Gewerkschaften Angst. Sie fürchten massiven Druck der Arbeitgeber, die ihnen für Lohnerhöhungen Zugeständnisse bei den Arbeitszeiten abpressen wollen. Und auf der betrieblichen Ebene ist eine »Verhandlung auf Augenhöhe« noch weniger realistisch.
Nicht alles, was im Koalitionsvertrag steht, wird umgesetzt. Die Kritiker hoffen, dass die Debatte auch dieses Mal im Sande verläuft. Vielleicht hilft es für die Auseinandersetzung in der SPD sogar, wenn die FDP als Partei der Unternehmer vorprescht.
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