Schreckgespenst Inklusion

»Das schadet den normalen Kindern!«: Raul Krauthausen räumt mit Vorurteilen auf

  • Raul Krauthausen
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf Veranstaltungen zum Thema Inklusion stelle ich mich gerne so vor: »Schon als Kind hatte ich viel Kontakt zu Menschen ohne Behinderung. Mich hat immer inspiriert, wie viel Lebensfreude sie ausstrahlen und wie gut sie ihr Leben meistern. Seitdem ist es für mich ganz normal, dass es auch Nichtbehinderte gibt.« Weil es immer noch merkwürdig klingt, wenn ein behinderter Mensch so etwas sagt, scheint es mit der Inklusion in Deutschland noch nicht geklappt zu haben. Wenn ich auf Vorträgen, in Schulen und auf Konferenzen über Inklusion rede, merke ich, wie dehnbar und biegsam der Begriff ist. Und wie viele Vorbehalte und negative Assoziationen damit verbunden sind.

Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess und ein Menschenrecht. Bereits in der UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2009 festgelegt, wie Inklusion stattzufinden hat. Nach fast zehn Jahren wird in Deutschland aber immer noch so getan, als wäre sie etwas Optionales, eine nette Zusatzgeschichte, die man machen kann, wenn noch Geld und/oder Zeit übrig ist. Und das ist das größte Vorurteil zum Thema: dass Inklusion optional ist.

Raul Krauthausen
Der Behindertenrechtsaktivist Raul Krauthausen moderiert die Talksendung »KRAUTHAUSEN – face to face« auf Sport1.

Oft wird Inklusion nur in der Schule verortet. Klar, sie müsste auch dort stattfinden. Tatsächlich aber bezieht sich Inklusion auf alle Lebensbereiche. Doch warum kann Inklusion in der Schule scheinbar nicht funktionieren?

Inklusion würde »den normalen Kindern schaden«, denn Kinder mit Behinderung »hemmen das Lerntempo der gesamten Klasse«, heißt es. Und weiter: »Behinderte Schüler*innen nehmen zu viel Zeit und Kraft der Lehrkräfte in Anspruch, nichtbehinderte Kinder werden notgedrungen vernachlässigt.« Für Inklusionsgegner*innen ist auch der Umkehrschluss zutreffend: »Inklusion ist schädlich für behinderte Kinder, weil diese an Regelschulen maßlos überfordert sind und hier nicht gefördert werden können.« Behinderte Kinder sollten an »Förderschulen, in denen sie unter sich sind«, unterrichtet werden - »um sie vor Mobbing zu schützen«. Und auch für Lehrer*innen sei Inklusion eine Katastrophe: Sie überfordert Lehrer*innen und Erzieher*innen, weil sie oft nicht für Kinder mit Behinderung ausgebildet seien, behaupten Inklusionskritiker*innen. »Inklusion geht zu Lasten aller Beteiligten, bringt somit niemandem einen Nutzen.«

Diese Vorurteile basieren auf der Vorstellung, bei behinderten Menschen handele es sich um eine homogene und ausschließlich defizitäre Gruppe. Dass es auch Hochbegabte und Schnelllerner mit einer Behinderung gibt, kommt in dieser Denkweise nicht vor. Ebenso wenig wird differenziert, dass Behinderungen unterschiedlich sind: dass es Körperbehinderungen verschiedenster Ausprägung gibt, Sinnesbehinderungen, Lernbehinderungen und so weiter. Eine Behinderung ist nicht statisch. So kann zum Beispiel ein Schüler mit einer Muskelerkrankung, der sich mit einem Rollstuhl fortbewegt, möglicherweise nicht am Sportunterricht teilnehmen. Er erfährt im Klassenzimmer allerdings durch ausreichende Barrierefreiheit keine behindernden Umstände und benötigt so keine zusätzliche Förderung. Über seine Mathematikkenntnisse sagt seine Behinderung nichts aus.

Bei einem inklusiven Schulsystem geht es um die individuelle Förderung jedes Schulkindes. Ging es bei bei Schülern*innen mit Behinderung bisher um »sonderpädagogischen Förderbedarf«, steht jetzt Teilhabe und Abbau von Barrieren im Fokus - Punkte, von denen auch nichtbehinderte Schüler*innen profitieren. Die Bezeichnungen »behindert«, »mit Förderbedarf«, »nicht-behindert« und »ohne Förderbedarf« spielen in einem inklusiven System keine Rolle. Stattdessen werden Schüler*innen als Individuen mit unterschiedlichen Potenzialen wahrgenommen. Andreas Hinz, Professor für Allgemeine Rehabilitations- und Integrationspädagogik, stellte treffend fest: »Bereits aus frühen Untersuchungen in Integrationsklassen ist bekannt, dass die (...) Zuordnung von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf mit der pädagogischen Realität individueller Unterstützungsbedarfe wenig zu tun hat.«

Ein inklusives Schulsystem würde Schüler*innen nicht mehr in defizitäre Kategorien einteilen, sondern einzeln betrachten, fördern und ermöglichen, Stärken und Interessen aktiv einzubringen. So wird aus dem vorurteilsbelasteten Schreckgespenst »Inklusion in der Schule« eine Perspektive und immense Lernverbesserung für alle Schüler.

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