Chemiebausteine aus Abwässern

Unsere flüssigen Abfälle bieten vielfältige Recyclingmöglichkeiten. Die Rückgewinnung chemischer Zwischenprodukte und von Energie ist dabei eine Option.

  • Bernd Schröder
  • Lesedauer: 6 Min.

Sauberes Wasser ist vielerorts ein knappes Gut. Wenn im Jahr 2050 voraussichtlich rund zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, kommt der Rückgewinnung von sauberem Wasser und zunehmend auch von Wertstoffen aus Abwasser eine besondere Bedeutung zu, wie der Wasserbericht der Vereinten Nationen von 2017 unterstrich. Solche Wertstoffe sind zuallererst gelöste Nährstoffe wie Nitrate und Phosphate, aber auch technologisch wichtige und energetisch nutzbare Bestandteile.

Industrielle Abwässer etwa aus der Metallgewinnung oder der Elektroindustrie, die nennenswerte Konzentrationen an Metallen und anorganischen Verbindungen mit sich führen, können durch verschiedene elektrochemische Extraktionsverfahren aufgearbeitet werden. Diese Verfahren lohnen jedoch aufgrund der nötigen Mindestkonzentrationen nur bei Abwässern der Großindustrie, außerdem sind sie energieintensiv und benötigen zusätzliche Prozesschemikalien. Gegenwärtig wird deshalb an bioelektrochemischen Methoden gearbeitet, die diese Nachteile ausgleichen könnten.

Mikrobielle Brennstoffzellen, die auf bioelektrochemischen Prozessen von Bakterien basieren, haben in den letzten zehn Jahren bereits Anwendung in der Abwasserbehandlung gefunden. Mit ihnen lässt sich Energie durch sogenannte anaerobe Vergärung gewinnen. Diese Technologie kann die Behandlungskosten und die Menge an Restschlamm deutlich reduzieren. Für eine umfassendere Anwendung sind jedoch noch technologische Verbesserungen erforderlich.

Die biologische Abwasserreinigung ist ein weiterer Ansatz, der sich zwar nicht vorrangig das Recycling von strategischen Technologie-Rohstoffen auf die Fahnen geschrieben hat, dafür jedoch die Entfernung von Stoffen, die die Wasserqualität beeinträchtigen und an anderer Stelle erneut verwendet werden können: als Nährstoff. Das gilt insbesondere für das Recycling der knappen Phosphate. Aufgrund ihrer hohen Effizienz und den vergleichsweise geringen Investitionen und Betriebskosten ist die biologische Abwasserreinigung ein Brennpunkt der Entwicklung, aus der auch innovative Verfahren zu einer verbesserten Stickstoffentfernung hervorgingen. So steht die anaerobe Ammoniumoxidation (ANAMMOX) im Mittelpunkt des italienisch-portugiesischen LIFE DeNTreat-Projekts, einem von der EU geförderten Vorhaben, mit dem die Stickstofffracht von Abwässern aus der Textilindustrie gemindert werden soll. Die war durch die zunehmende Verbreitung digitaler Textildrucktechniken zuletzt stark angestiegen.

Die Europäische Kommission unterstützt zudem eine ganze Reihe von weiteren Projekten, die Produkte aus Abwässern herstellen. Zum Beispiel Waste2NeoAlginate, ein Projekt, das auf alginatähnliche Exopolymere setzt: hochmolekulare Polymere aus Exopolysacchariden - Zuckerresten, die von den in den Kläranlagen gedeihenden Bakterien erzeugt werden. Diese sind mit Alginaten vergleichbar, die traditionell aus Meeresalgen gewonnen werden. Alginate könnten viele auf fossilen Rohstoffen basierende Chemikalien ersetzen, etwa in der Landwirtschaft, oder bei der Herstellung von Papier, Textilien und Beton. Die weltweite Jahresproduktion von qualitativ hochwertigem Alginat ist auf etwa 33 000 Tonnen begrenzt - aufgrund der aufwendigen Extraktion sind sie relativ teure Polymere, die in der Lebensmittelbranche und als Farbverdicker zum Einsatz kommen. Der Alginatersatz aus den Klärwerken soll niederpreisigere Anwendungen erobern.

Eine erste Fabrik im holländischen Zutphen soll ab Anfang 2019 mit einer Kapazität von jährlich 400 Tonnen solcher Exopolymere produzieren. Der zu verarbeitende Klärschlamm kommt dann aus dem Abwasser nahe gelegener Molkereien. Aus je 100 Kilogramm davon sollen sich 20 Kilogramm Exopolymere gewinnen lassen. Die Baukosten von 13 Millionen US-Dollar tragen die Europäischen Kommission und die holländische Regierung. Ein weiteres Werk ist in Epe in Planung.

Die Niederlande sind in der EU Vorreiter bei der Gewinnung von Produkten aus dem Abwasser. In mehr als einem Dutzend Kläranlagen gibt es Programme zur Rückgewinnung von Energie, Phosphor und Zellulose.

Zellulose kann leicht in einer einfachen Vorbehandlungsphase unter Verwendung von Feinsieben aus dem Abwasser gefiltert werden. Nach Trocknung des wiedergewonnenen Zellulosematerials kann es als Ausgangsmaterial für Biokraftstoffe oder höherwertige Industriechemikalien verwendet werden. Die Entfernung von Zellulose kann den Energieverbrauch bei der herkömmlichen Schlammbehandlung um bis zu 40 Prozent senken. In Holland macht das die Energieen Grondstoffenfabriek (EFGF), ein von den Wasserwirtschaftsverbänden gegründetes Unternehmen, das sich um die werthaltige Fracht der Abwässer kümmern soll.

Die Abwasserströme führen noch andere Reichtümer mit sich, deren Bergung jedoch deutlich höhere Investitionen verlangt als bei Phosphaten oder Zellulose. Verfahren zur Gewinnung von Polyhydroxyalkanoaten (PHA) aus Abfällen etwa erfreuten sich bereits in den 1970er Jahren einer gewissen Popularität und erleben nun ein Revival. PHA sind biologisch abbaubare Polymere mit ähnlichen Eigenschaften wie Polymilchsäure (PLA), einem thermoplastischen Biokunststoff, der unter anderem in Cateringartikeln und als Material im 3D-Druck verwendet wird. Bakterien im Abwasser können PHA in ihren Zellen erzeugen.

Die PHA-Gewinnung aus Abwässern hat mit einer Schwierigkeit zu kämpfen: Die Substanz liegt relativ stark verdünnt vor, ein generelles Problem beim Recycling aus Abwasserströmen. Das bekam man auch beim Abwasserdienstleister Veolia zu spüren, der 2016 eine Pilotanlage in Belgien schließen musste.

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist der Einsatz umweltfreundlicher Mikroalgen, um hochwertige Produkte wie Biokraftstoffe für den Verkehr, Biokunststoffe, Biochemikalien, Nahrungs- und Futterergänzungsmittel, Antioxidantien und kosmetische Inhaltsstoffe aus im Abwasser gelösten Ressourcen herzustellen.

Andere Ansätze konzentrieren sich gleich auf die Nutzung der in der organischen Abwasserfracht schlummernden Energie. Das japanische Abwassergesetz von 2015 zum Beispiel verpflichtet die Betreiber von Kläranlagen, daraus gewonnene Biofeststoffe als kohlenstoffneutrale Energieträger zu verwenden. Das Potenzial: 2,3 Millionen Tonnen Biofeststoffe aus den 2200 Kläranlagen des Landes können 160 Gigawattstunden Elektroenergie im Jahr finanziell begünstigt ins japanische Netz einspeisen.

Einige neue Unternehmen gehen unterdessen futuristischer anmutende Wege. Sie wollen zunächst mit bescheideneren Abfallmengen arbeiten, wie sie typischerweise in einem Dorf anfallen, oder in einer kleinen Brauerei. Wie das in Kalifornien ansässige Start-up NuLeaf Tech. Im Nutree-Gerät, einer drei Kubikmeter großen, baumartigen Struktur, arbeiten drei sich ergänzende Technologien zusammen: Pflanzenkläranlage, Hydrokultur und mikrobielle Brennstoffzellen. Pflanzen und Mikroben, die normalerweise in Feuchtgebieten vorkommen, verdauen den Abfall und wandeln ihn in einen Flüssigdünger um, während die freigesetzten Elektronen ihre Energie an die Brennstoffzellen abgeben, mit deren Energie wiederum das Abwasser nach oben pumpt.

Der Hauptvorteil eines solchen Systems gegenüber herkömmlichen Abwasserbehandlungsanlagen sind die Kosten: Bei NuLeaf schätzt man, dass Nutrees für jeweils etwa 10 000 US-Dollar zu produzieren sind. Das Unternehmen testet derzeit Prototypen in einer Handvoll kleiner Brauereien in den USA. Nutree, auch als vertikales Feuchtgebiet bezeichnet, soll täglich nur 2000 Liter Brauereiabwasser zu Flüssigdünger verarbeiten. Die Technologie kann durch Hinzufügen von Modulen hochskaliert werden. 2018 soll eine Kickstarter-Kampagne lanciert werden.

Wichtiges Standbein einer modernen Abwasseraufbereitung ist die Entwicklung neuer Trennprozesse, die die Wirtschaftlichkeit der Herstellung von Chemiebausteinen in Kläranlagen deutlich verbessern könnten, wie Membranfiltration und energiesparende mikrofluidische Siebe. Im Rahmen des Projekts HighCon beispielsweise werden innovative Technologien wie Membrandestillation, Elektrodialyse und selektive Niedertemperatur-Destillation-Kristallisation angepasst sowie etablierte Technologien wie Nanofiltration oder Umkehrosmose integriert. Behandelt werden ganz unterschiedliche industrielle Abwässer: aus der chemischen Industrie, der Nahrungsmittelherstellung, der Kosmetikindustrie sowie Industriewäscherein. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Fortschritte in der Membrantechnologie haben nicht nur die Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit behandeltem Abwasser für Mensch und Umwelt reduziert. Sie haben auch neue Möglichkeiten für die Abwassernutzung eröffnet, wie etwa die Wiederverwendung von Trinkwasser. Der Einsatz von Membrantechnologien (Umkehrosmose, Mikrofiltration, Ultrafiltration usw.) wird zunehmend insbesondere in Industrieländern üblich, da die Membranen ständig verbessert werden und die Betriebskosten sinken.

Membranbelebungsreaktoren sind eine weitere moderne Technologie, die aus der Verknüpfung von Membrantrennverfahren mit Belebtschlammprozessen hervorgingen. In jüngster Zeit nimmt die Zahl der Anlagen mit dieser Technologie zu. Die Anlagen lassen sich kompakt bauen, flexibel einsetzen und arbeiten überdies auch ferngesteuert zuverlässig.

Bis das Stoffrecycling vom Forschungsstadium in größere Maßstäbe überführt wird, sind neben verfahrenstechnischer Herausforderungen auch noch andere Probleme zu lösen. Neben der Wirtschaftlichkeit der Prozesse betrifft das vor allem die Rechtssituation: Damit aus Abfällen wiedergewonnenes Material sicher zirkulieren kann, müssen erst Standards und Regeln etabliert werden.

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