Ritt übern Bodensee

Die Neuköllner Oper brachte die Uraufführung »Welcome to Hell« heraus

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Jedes Jahr bringt Peter Lund mit seinem Musical-Studiengang der Universität der Künste eine neue Produktion an die Neuköllner Oper, deren künstlerischer Chef er einmal war. Es spricht diesem Ort zu, dass man sich hier mit Musiktheater gesellschaftspolitischen Themen stellt. Die aktuelle Koproduktion aber sei die bisher riskanteste gewesen, sagte Lund nach der Uraufführung von »Welcome to Hell«. Einen Ritt über den Bodensee nannte er das. Eineinhalb Jahre arbeitete er mit seinen Studenten an dem Stück. Vor der Uraufführung schwappte die Grippewelle in die Proben. Eine Darstellerin fiel am Ende aus. Soweit zur Vorhölle.

In der Tat ist das neue Musical, das sich um Ereignisse in Hamburg während des G20-Gipfels dreht, brisant, provokant. Wie packt man so dunkle Geschehnisse an, dass man zum einen dem Thema gerecht wird und überdies für gute Unterhaltung sorgt, wie es ein Musical verlangt? Lund, der den Text schrieb und Regie führt, geht von jungen Leuten aus, die keineswegs zufrieden sind mit den Zuständen, aber in verschiedenen Lebenssituationen natürlich unterschiedlich damit umgehen. Die Kassiererin im Supermarkt plagen wahrlich andere Probleme als den von den Eltern finanzierten Punker, der die Welt retten will. Die engagierte Journalistin geht aus gutem Grund auf den vermeintlichen Fotografen los, der die naive junge Asiatin aus Husum abschleppen will. Ihre frühere Studienkollegin und Geliebte taucht mit Trauma und Verschwörungstheorien ins Internet ab, mit dem Gedanken, dass die Welt untergehe, wenn sie die Wohnung verlässt. Sie empfindet es dann auch so, als die Luft brennt. Und, unter uns gesagt, muss mit der Hamburger Luft auch noch irgendwas anderes gewesen sein, wenn man sich noch mal die damaligen tatsächlich merkwürdigen Aktivitäten der dort eingesetzten Berliner Polizeikräfte in Erinnerung ruft.

Für die Bühne mussten die Musicalstudenten Rollencharaktere entwickeln. Das schafften sie mit all den eingearbeiteten Konflikten gut. Lebenserfahrung und ein waches Auge für die Realität sprechen daraus. Deshalb müssen sie hier auch genannt sein: Alexander Auler, Didier Borel, Loch Damien, Tae-Eun Hyun, Mira Keller, Lucille-Mareen Mayr, Pablo Martinez, Mathias Reiser, Nikko Forteza Rumpf, Anastasia Troska, Andrea Wesenberg und Katia Bischoff, für die Sophia Euskirchen im letzten Moment schauspielerisch einsprang. Bischoffs Gesang wurde eingespielt.

Das Hadern mit den Zuständen der jungen Leute und den Konflikten in den erdachten Rollen dämpft längst nicht alle Lebensfreude. Sie feiern hedonistische Partys, wollen mit einer Tanz-Demonstration während des Gipfels auf sich aufmerksam machen. Und nur einer von ihnen ist mit dem plötzlich zerstörerisch auftauchenden »schwarzen Block« aus Leuten von sonst wo gemein. Der steht dann dem traumatisierten Polizisten gegenüber, der sich vom Staat missbraucht fühlt und sich in seinem Solo passend wie ein Roboter bewegt.

Die Musik für den Musicalabend, einstudiert und alternierend dirigiert von Hans-Peter Kirchberg (Uraufführung) und Tobias Bartholmeß, schrieb Peter Michael von zur Nahmer. Dem Komponisten und Klangforscher mit deutsch-amerikanisch-mexikanischen Wurzeln gelang durchgängig der richtige Ton für die jeweilige Situation. Das gipfelt in einem Paso Doble, nach dem Choreografin Neva Howard Polizei und Wirtschaft auf dem Revier gemeinsam tanzen lässt. Getanzt und gesungen wird insgesamt gut während des samt Pause fast dreistündigen Abends.

Die Religion bekommt da auch ihr Fett weg, weil einer der Männer mit dem ins Missionarische gehenden Glauben an Gott seine wahre sexuelle Identität verdrängt. Spott erntet er dafür. Da sind sich die anderen bis zum Ende einig. Kein Wunder in einem Land, das unter Verantwortung einer christlichen Partei zu den größten Waffenlieferanten der Welt gehört. Wahrlich keine göttliche Tat. Zur Hölle damit.

Homosexualität ist in »Welcome to Hell« großer Raum gegeben. Möglicherweise spiegelt sich darin die Tatsache, dass es gleichgeschlechtlich Liebende mehr und mehr in deutsche Großstädte zieht, wenn es in der Provinz oder im Ausland an Akzeptanz fehlt. In Berlin ist diese Einwanderung jedenfalls deutlich. Wie im Musical »Kopfkino« mit der Sorgfalt für Details übernahm Zoe Agathos auch die Ausstattung für die neue Produktion samt Videos.

Bis 29.4., Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131, Neukölln, (030) 6889070

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