Die Zeit der Quietschgeräusche

Eine Ausstellung würdigt das Freejazzlabel »Free Music Production« und andere Underground-Kunst nach 1968

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 7 Min.
Als der Freejazzpionier Peter Brötzmann gemeinsam mit Gleichgesinnten im Jahr 1968 das »Total Music Meeting«, ein Festival für improvisierte Musik, ins Leben rief, tat er das auch deshalb, weil ihm Konventionen so sehr verhasst waren. Der Saxophonist und musikalische Grenzgänger sah sich nicht nur als Künstler, sondern auch als linker Gesellschaftskritiker. Die damaligen Organisatoren der Berliner Jazztage, in deren Rahmen der musikalische Revoluzzer ursprünglich auftreten sollte, erwarteten, dass die Künstler vor dem Westberliner Publikum in angemessener Abendgarderobe, sprich: in schwarzen Anzügen, auf die Bühne treten. An einem solchen spießbürgerlichen Affenzirkus wollte Brötzmann sich aber nicht beteiligen und gründete als Reaktion kurzerhand sein eigenes Festival, bei dem es weniger brav, bürgerlich und gemäßigt zugehen sollte. Überhaupt wollte man die Musik aus den ihr von den Bütteln der Kulturindustrie und anderen Langweilern angelegten Fesseln befreien, und ein wenig wollte man auch die verkrustete, vermuffte und an den Schaltstellen der Macht personell noch immer von Altnazis durchsetzte, postnationalsozialistische BRD aufmischen und ärgern.

»Machine Gun« hieß etwa Brötzmanns im selben Jahr live aufgenommene und (natürlich im Selbstverlag) erschienene denkwürdige Jazzplatte, die auf den Vietnamkrieg anspielte und natürlich genau so klingt, wie sie heißt. Und die den Weg bereitete für die Erneuerung dieser Musikrichtung. »Ein wildes Gemetzel« sei die Musik auf diesem Album, so schrieb die »Taz« einmal.

Brötzmann und seine Mitstreiter orientierten sich an den Zertrümmerern des althergebrachten Sounds, die den Jazz auch als radikale Begleitmusik zur sozialen Befreiung verstanden wissen wollten: Ornette Coleman, Albert Ayler, Don Cherry. In der Folge entstand in Westberlin eine Art deutscher Ableger der US-amerikanischen Neuerer: das unabhängige und lange als Kollektiv betriebene Plattenlabel Free Music Production (FMP), gegründet von Brötzmann und dem Sozialarbeiter und Bassisten Jost Gebers. Vorgenommen hatte man sich nicht wenig: einem auf oberflächliche Massenunterhaltung setzenden Musikmarkt den Stinkefinger zeigen, die Produktions- und Arbeitsbedingungen unabhängiger Musiker verbessern und ihnen erstmals eigene Vertriebswege für ihre Musik schaffen, ein bisschen die Gesellschaft aus den Angeln heben.

Die Geschichte dieser deutschen Freejazzer wird nun erstmals in Berlin mit einer Ausstellung gewürdigt, ausgerechnet in jenem Raum der Akademie der Künste, in dem früher ihre Konzerte stattfanden. Problematisch ist dabei: Eine weitgehend improvisierte und für den Moment geschaffene Kunstform wie die des Free Jazz lässt sich im Grunde nur schwer konservieren, und auch eine Art Re-enactment einer einst widerständigen Kunstpraxis ist zum Scheitern verurteilt. Andererseits ist eine Musealisierung einer solchen, sich nicht den institutionellen Bedingungen anpassenden Musik heute, wo deren Protagonisten Greise oder bereits verstorben sind, wohl unausweichlich.

Es gibt nun mal Fotos, Filme, Tonaufzeichnungen: So erfahren wir etwa unter anderem auch von der Feminist Improvising Group, einem performativen Projekt von Musikerinnen, die 1979 beim Total Music Meeting auftraten, dort eine Mischung aus bizarren Schauspielperformances und improvisierten Klängen boten und sich nach ihren Konzerten prompt von den (wohlgemerkt: sich fortschrittlich wähnenden) Männern anhören mussten, sie könnten ihre »Instrumente nicht richtig spielen«.

Wir erhalten einen Einblick in die intensive Kooperation des bundesdeutschen FMP-Kollektivs mit der DDR-Jazzszene, dem DDR-Label Amiga und den Komponisten Neuer Musik. Wir lernen etwas über die temporär rege Zusammenarbeit der bilderstürmerischen Impro- und Freejazzer mit den Aktionskünstlern der Fluxus-Bewegung oder mit den Anfang der 80er Jahre Aufmerksamkeit erregenden »neuen Wilden« in der Malerei (Martin Kippenberger, Albert Oehlen).

An Archivmaterial, das via Bildschirm zu begutachten ist, mangelt es nicht. Die Frage allerdings, ob man unbedingt auch hier zum wiederholten Mal dem notorischen, in jeder Hinsicht überschätzten Tränensack Günter Grass dabei zusehen muss, wie er Passagen aus seinem unlesbaren Romanmachwerk »Der Butt« vorträgt, während der nicht minder überschätzte Schlagzeuger Günter »Baby« Sommer dazu Krach mit seinen Trommeln schlägt, möge jeder Besucher für sich beantworten.

Dass in der Ausstellung die gesamte Tonträgerproduktion des Berliner Plattenlabels FMP, das 2010 seine Tätigkeit einstellte, präsentiert wird, inklusive der Originalplattenhüllen und der begleitenden Grafiken und Druckwerke, ist jedenfalls mehr als verdienstvoll.

Ein Nebeneffekt dieser Akribie beim Ausgraben von Material, das in den 60ern und 70ern immerhin nur innerhalb eines recht überschaubaren Personenkreises zirkulierte, ist allerdings der, dass die Gesamtmenge der hier aufgefahrenen Ausstellungsstücke für den Besucher schwer zu bewältigen ist: Gemälde, Poster, Objekte, Fotos, Briefe, Broschüren, Klangkunstapparate, Super-8- und Videofilmmaterial (darunter auch bisher nirgendwo zu sehendes) sowie Fotos, die Performances dokumentieren, Vinylschallplatten, CDs und über die Ausstellungsräume verteilte »Audiostationen«, an denen gewaltige Massen improvisierter Musik aus den letzten 50 Jahren, überwiegend dem Bereich Free Jazz zuzuordnen, abrufbar sind. Auch bisher unveröffentlichte Musik ist zu hören, die speziell für die Ausstellung digitalisiert wurde. Es handele sich um eine Ausstellung, die man in 30 Minuten durchwandern könne, in der man aber auch ohne Weiteres drei Tage zubringen könne, sagte vor ihrer Eröffnung der für die Geschichte des Labels FMP zuständige Kurator Markus Müller. So ist es. Es kommt eben ganz darauf an, wie viel man für Free Jazz und dessen gesellschaftliche Mission übrighat.

In einem zweiten Ausstellungsraum sind Exponate versammelt, die, ebenfalls in der Folge von 1968, in vielen Ländern des sogenannten Ostblocks in den im Untergrund tätigen Kunstszenen entstanden: Audiovisuelle Objekte verschiedener Art (aus Alltagsgegenständen gefertigte Musikinstrumente der Ostberliner New-Wave-Band Ornament & Verbrechen, Kassettentapes, Collagen, Samisdat-Druckerzeugnisse, Blätter mit visueller Poesie und Ähnliches) dokumentieren, womit der Ost-Hippie und der sich als unangepasst verstehende subversive Künstler in der ČSSR, in Ungarn oder Polen sich beschäftigt haben und auf welche Weise sie sich das Vokabular der Avantgarde zunutze gemacht haben, um ihr Nichteinverständnis mit den herrschenden Strukturen eines autoritären Staatssozialismus zu formulieren. Man schuf etwa kryptische Stahlskulpturen, denen man Titel wie »Erinnerungsmühle« gab, machte aus alten Kanistern Percussioninstrumente, berief sich auf eine Ästhetik des »ungehinderten Ausdrucks« und beteiligte sich rege an allerlei »verzottelten, psychedelisch-kommunardischen Umtrieben« (»Berliner Zeitung«).

Auch hier lauteten - nicht anders als bei den Westberliner Freejazz-Enthusiasten - von den 60er bis zu den 80er Jahren die entscheidenden Stichworte: Unabhängigkeit und Selbstorganisation (Synthesizer oder Filmequipment waren für unabhängige Künstler unerschwinglich). Selbst unpolitische Kunst sei in den osteuropäischen Ländern seinerzeit »politisch geworden, weil die staatssozialistischen Regierungen sie als eine Bedrohung wahrgenommen« habe, so der Kurator Daniel Muzyczuk.

Der vom Staat favorisierten und nicht selten öden offiziellen Kunst begegneten Underground-Kunstschaffende mit Skepsis, entwickelten also eigene Formen des künstlerischen Ausdrucks, die sich häufig auf die Ästhetik und die Techniken der frühen Moderne (Dada, Futurismus) bezogen. Ein Film dokumentiert etwa einige Performances der jugoslawischen Künstlerin Katalin Ladik: Man sieht ihr bei der Produktion ihrer Lautpoesie zu, bei welcher es sich um Fiep- und Quietschgeräusche handelt, die sie beispielsweise erzeugt, indem sie durch eines ihrer Nasenlöcher atmet, aus dem ein Strohhalm in ein großes bauchiges Glas mit Flüssigkeit führt, während sie sich das andere Nasenloch zuhält. Lustig. Es würde einen aber auch nicht allzu sehr verwundern, wenn hinsichtlich dieser Performance im Begleittext zur Ausstellung die Rede wäre von einem künstlerischen Versuch, einen akustischen Gegenentwurf zur sinnentleerten und toten Bürokratensprache eines totalitären Regimes zu kreieren.

Begleitend zu den beiden Ausstellungen findet ein umfangreiches »diskursives Programm« statt, bestehend aus insgesamt über 30 Podiumsdiskussionen und Konzerten. Am 6. und 7. April tritt Brötzmann mit seinem alten Weggefährten Alexander von Schlippenbach (Piano) sowie dem auch in der niederländischen Punkband The Ex performenden Ausnahmeschlagzeuger Han Bennink auf. Mit von der Partie wird obendrein der wunderbare Noise-Gitarrist Keiji Haino sein.

Am 8. April ist dann das Trondheim Jazz Orchestra dran, das seine windschief in der Gegend hängende, sperrige und mehrfach verknotete Topfschlagmusik live darbietet. Und am 24. April vereinen sich die Gebrüder Ronald und Robert Lippok (Ex-To Rococo Rot) kurzzeitig wieder zu Ornament & Verbrechen.

Doppelausstellung: »Notes from the Underground - Alternative Musik und Kunst in Osteuropa 1968 - 1994« und »Free Music Production/FMP: The Living Music«, bis zum 6. Mai, Di - So 11 - 19 Uhr, in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten. www.adk.de

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