Die Außenseiter-Marxisten

Karl Heinz Roth über seinen Weg zum Operaismus und die Suche nach dem revolutionären Subjekt

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 9 Min.

Wann haben Sie das erste Mal Marx gelesen?

Das war 1965, als ich in Bonn zum SDS kam. Wir brauchten damals Leute für Kapitalschulungen und ich wurde vom SDS Köln dazu delegiert, jungen Chemiearbeitern Marx beizubringen. Da gab es dann einen zweimonatigen Crashkurs. Das war damals sehr anspruchsvoll und ambitioniert. Wir sind aber nicht in die »marxologische Falle« getappt.

Zur Person
Karl Heinz Roth ist einer der profiliertesten linken Historiker und Vertreter des sogenannten Operaismus in der Bundesrepublik. Diese neomarxistische Strömung entwickelte sich in den 1960er Jahren in Italien und setzte auf wilde Streiks. Aus ihr heraus entstanden die Autonomen.

Wie meinen Sie das?

Wir lasen nicht nur Marx, sondern auch Ökonomen wie Joseph Schumpeter und John Maynard Keynes. Wir kamen damals zu dem Ergebnis, dass Marx an einem Punkt nicht zu widerlegen und entscheidend war: Das war das Konzept der Mehrwertproduktion, also des Auspressens von unbezahlter Arbeit durch die Kapitalisten. Das war ein Fixpunkt für all jene, die sich später in Richtung Operaismus entwickelten.

Hatten Sie damals schon Kontakt zu diesen Anhängern des Marxismus italienischer Prägung?

Bis dahin war es noch ein längerer Weg. Zunächst waren da die Auseinandersetzungen innerhalb des Hamburger SDS in den Jahren 1968 und ’69. Ich war damals Sprecher des Landesverbandes und befand mich in Auseinandersetzung mit anderen SDS-Gruppen, die den Verband auflösen wollten.

Was war der Hintergrund?

Wir waren der Meinung, dass es notwendig sei, aus dem Bildungswesen heraus eine breite linkssozialistische Bewegung zu initiieren. Schließlich breitete sich die Studentenrevolte vor allem auch auf die Fachhochschulen sowie Ingenieurschulen aus und erste Lehrlings- sowie sozialistische Schülergruppen entstanden. Es gab damals einen Streik der Ingenieurstudierenden, der die gesamte Fachhochschulwelt lahmlegte. Das wollten wir als Faustpfand in die Initiierung einer linkssozialistischen Massenbewegung einbringen. In dem Kontext haben wir uns auch wieder intensiv mit Marx beschäftigt.

Was war das Ergebnis?

Es ging vor allem um die Reproduktion der Arbeitskraft und die komplizierte, also qualifizierte Arbeit in ihren werttheoretischen Kontexten. Wir kamen zu dem Schluss, dass Nautiker, Techniker und Ingenieure auch Teile der arbeitenden Klassen sind. Später haben wir festgestellt, dass es eine solche Diskussion auch bei den italienischen Operaisten gegeben hat. Die Texte ihrer Vertreter wie Sergio Bologna und anderer haben wir dann begierig aufgesogen und festgestellt, dass wir mit ihren Auffassungen ziemlich konform waren.

Hatten Sie eigentlich auch Austausch mit anderen Marxisten aus der BRD?

Der Austausch war sehr gering. Wir Operaisten waren immer Außenseiter-Marxisten.

Warum?

Wir waren sehr früh der Ansicht, dass die Arbeitskraft keine Ware ist, die auf dem Arbeitsmarkt verkauft wird. Sie wird bloß vermietet. Da gab es schon sehr früh Papiere, in denen wir Marx kritisierten. Das hat uns vollkommen von der traditionslinken Marx-Interpretation unterschieden. Ich glaube aber, dass wir letztlich mehr Respekt vor Marx hatten als die Traditionslinke, die ihre Dogmengebäude über die automatischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitals erarbeitete.

Was veranlasst Sie zu dem Schluss?

Wir haben Marx als einen Steinbruch gesehen, der uns unglaublich viele Impulse gegeben hat und der in zentralen Aussagen eigentlich immer wegweisend geblieben ist. Aber wir haben Marx auch immer als jemanden verstanden, der kein abgeschlossenes Werk produziert und immer genug Selbstzweifel hatte. Und dieses Bild hat sich mit der neueren Marx-Forschung bestätigt.

Der SDS löste sich im März 1970 auf. War das dann Ihr letzter Schritt zur Hinwendung zum Operaismus?

Da gab es noch einen weiteren Zwischenschritt. Aus dem SDS entwickelte sich die »Proletarische Front«. Dort setzten wir uns intensiv mit Rosa Luxemburgs »Einführung in die Nationalökonomie« auseinander und fingen an, die marxsche Werttheorie mit der Lohntheorie abzugleichen. Die zentrale Frage war, inwiefern die arbeitende Klasse in ihren Kämpfen in der Lage ist, die Profitrate zu reduzieren, indem sie Lohnsteigerungen durchsetzt, die weit über der Steigerung der Arbeitsproduktivität liegen. Und das war natürlich ein zentrales Konzept der Operaisten. Besonders der Gruppe Potere Operaio. Das war dann auch der Punkt, der dazu führte, dass wir schließlich Kontakt mit den italienischen und anderen westeuropäischen Operaisten aufnahmen.

Was war Ihr zentrales Anliegen?

Uns ging es um die europäische Migrationsarbeit. Schließlich hatten wir in Hamburg neben der Theoriearbeit einen weiteren Schwerpunkt. Das war wie beim Revolutionären Kampf in Frankfurt am Main und der Arbeitersache in München die Orientierung an der Selbstorganisierung der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und so weiter. So haben wir das Konzept des »multinationalen Massenarbeiters« entwickelt, das bedeutete, dass den zentralen Bezugspunkt von Arbeitskämpfen in Europa immer die sogenannten Gastarbeiter bildeten.

Der Begriff des Massenarbeiters steht auch beim Operaismus im Mittelpunkt. Was bedeutet er?

In Italien bezog sich dieser Begriff auf das Phänomen, dass Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre massenweise ungelernte arbeitslose Jugendliche aus Süditalien in den Norden emigrierten, um im italienischen Industriedreieck von Genua, Turin und Mailand am Fließband zu arbeiten. Daraus entwickelte sich eine ganz eigene Dynamik von Kämpfen, die zum Bruch der späteren Operaisten mit der italienischen Traditionslinken führte. Die Argumentation der Traditionslinken war, dass man keine absolut konfrontative Strategie gegen das Kapital einschlagen könne, weil der italienische Kapitalismus dazu noch nicht weit genug entwickelt war. Die Operaisten widerlegten das.

Inwiefern führte der Kontakt mit den italienischen Operaisten zu einer neuen Auseinandersetzung mit Marx?

Wir haben sehr schnell gesehen, dass die italienischen Genossinnen und Genossen viel weiter waren als wir. Mario Tronti hatte bereits Mitte der 1960er Jahre sein bahnbrechendes Buch »Opreri e Capitale« (Arbeiter und Kapital) geschrieben, wo zum ersten Mal nicht nur vom Kapital, sondern auch von Arbeitern die Rede ist. Tronti ging darin der Frage nach, ob - so wie es Marx darstellt - die Unterwerfung der Arbeitskraft unter den kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozess total ist.

Und ist die Verwertung total?

Tronti löste das Problem, indem er sagte, dass die Arbeiterklasse gleichzeitig Wert und Nicht-Wert ist. Sie ist dem Prozess der Mehrwertproduktion total unterworfen, also Wert, gleichzeitig organisiert sie sich aber gegen das Kapital und ist damit Nicht-Wert. Das ist vor allem für die Frage der Selbstorganisierung wichtig.

Inwiefern würden Sie Ihre Erkenntnisse von vor 40 Jahren heute revidieren?

Unsere Theoriebildung war immer derartig praxisorientiert, dass wir immer nur Einzelaspekte der marxschen Theorie umfassten. Natürlich war Trontis Ansatz, die Arbeiterklasse als Nicht-Wert zu definieren, sehr spekulativ und eine sehr eigenwillige Interpretation von Marx, die ich heute so nicht mehr akzeptieren würde. Viel problematischer finde ich aber die post-operaistische Entwicklung meines alten Freundes Toni Negri.

Was stört Sie an seinem Ansatz?

Ich finde es zum Beispiel sehr problematisch, dass er die arbeitenden Klassen auf immaterielle Arbeitsverhältnisse reduziert, wie sie etwa in der Kreativ- und IT-Branche vorherrschen. Da gibt es spekulative Ansätze der Generalisierung, die der Komplexität der globalen Arbeitsverhältnisse überhaupt nicht mehr gerecht werden.

Sie sprechen auch vom Weltproletariat statt wie Negri von der Multitude, der Masse der Vielen, als revolutionäres Subjekt.

Zunächst gehe ich davon aus, dass es die arbeitenden Klassen in einer unglaublichen Komplexität gibt. Und diese Komplexität ist weltweit zu fassen. Da darf man auf keinen Fall den Fehler machen, im Sinne eines methodischen Nationalismus das Ganze germanozentrisch oder eurozentrisch zu sehen. Insofern gibt es zwar eine Multitude von immateriellen, kognitiven Arbeitern. Die ist aber nicht das zentrale Subjekt.

Wer ist es dann?

Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Ich würde sagen, die arbeitenden Klassen sind das potenzielle revolutionäre Subjekt. Und wenn sie nicht reell werden, dann wird es vielleicht zu einem Untergang des Weltsystems in einem Armageddon kommen.

Wie kann dann wieder ein reelles revolutionäres Subjekt entstehen?

Dafür braucht es eine komplexe Beziehung von Impulsen, die durchaus auch ein Stück weit von außen von revolutionären Intellektuellen kommen kann. Dies darf aber nicht über das alte leninistische Modell der Erweckung der Arbeiterklasse durch die revolutionäre Intelligenz geschehen. Das muss durch gemeinsame Projekte auf Augenhöhe kommen.

Mit der Weiterentwicklung des Konzepts des Massenarbeiters zum Operaio Sociale, dem gesellschaftlichen Arbeiter, weiteten die Operaisten das Feld der sozialen Kämpfe von der Fabrik auf die ganze Gesellschaft aus. Wäre das nicht auch ein Ansatz?

Es war richtig, das Territorium der Kämpfe zu verlagern. Auch heute ist es notwendig, die unmittelbare Produktionsarbeit mit der über das Regulationssystem vermittelten reproduktiven Arbeit etwa im Gesundheits- oder Bildungswesen zu verbinden. Im Grunde ist es auch banal: Die Krankenschwestern gehören genauso zur arbeitenden Klasse wie die Fabrikarbeiter. Aber die Antworten, die die Operaisten entwickelten, waren leider unzureichend.

Warum?

Letztlich hatten auch die Operaisten einen verengten Begriff von Reproduktionsarbeit. Dabei gab es in dieser Szene Anfang der 1970er Jahre auch eine feministische Szene, die mit der Kampagne »Lohn für Hausarbeit« die weibliche Reproduktionsarbeit in der Familie thematisiert hat. Dieser Punkt wurde zwar konzeptionell geklärt, aber leider nicht politisch. Diese Auseinandersetzung war ein wesentlicher Faktor bei der Auflösung der Organisation Potere Operaio.

Eine derzeit wachsende soziale Bewegung ist die Mietenbewegung. Inwiefern steht auch diese Bewegung für eine Ausweitung der Kämpfe aus der Fabrik in die Gesellschaft?

Natürlich ist der Mietenkampf wie die Kämpfe im Gesundheitssystem, gegen Hartz IV oder die Streiks bei Amazon ganz zentral. Schon während des Aufkommens der Hausbesetzerszene haben wir das theoretisch thematisiert. Dabei sahen wir Hausbesetzungen als kostenlose Aneignung von Reproduktionswerten an. Insofern brauchen wir einen gesamtgesellschaftlichen Wertbegriff, der zeigt, dass die Produktion und Reproduktion ein sehr komplexes Phänomen ist, das man aber letztlich auf ganz klare Konfrontationslinien mit dem Kapital zurückführen kann.

Würde man damit Marx nicht aus dem 19. Jahrhundert lösen?

Das ist der Ausgangspunkt, den wir heute brauchen, um uns auf der einen Seite vom dogmatischen Marxismus zu lösen und auf der anderen Seite Marx wirklich wiederzuentdecken. Die neuere Marx-Forschung zeigt, wie er selbst angefangen hat an sich zu zweifeln. So hat er am Ende gegenüber den russischen Narodniki eingestanden, dass seine Theorie der kapitalistischen Entwicklung sich nur auf den europäischen Westen bezieht. Dabei war Marx gerade in seinen Widersprüchlichkeiten eine großartige Person.

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