• Politik
  • Hausbesetzung in Stuttgart

»Leerstand mit Leben füllen«

Seit Ende April sind zwei Wohnungen in Stuttgart besetzt / 20 Organisationen und 100 Personen haben eine Solidaritätserklärung unterschrieben

  • Peter Streiff, Stuttgart
  • Lesedauer: 4 Min.

»Die Wohnung war offen und in gutem Zustand, Strom und Wasser haben funktioniert«, erzählt Jörg (*), der zusammen mit seiner Partnerin Adriana und ihrem einjährigen Kind die Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss belebt. Die Familie musste bisher mit einem Anderthalb-Zimmer-Appartement auskommen und sucht seit fast zwei Jahren nach einer bezahlbaren Wohnung. Im Dachgeschoss zog vor zwölf Tagen die alleinerziehende Mutter Rosevita mit ihrem neunjährigen Sohn ein. Davor musste sie in einer »geräumigeren Abstellkammer von 16 Quadratmetern bei ihrer Schwester« hausen, nachdem ihr die Wohnung, die sie seit 20 Jahren gemietet hatte, wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde.

Die zwei Wohnungen an der Wilhelm-Raabe-Straße 4 in Stuttgart waren nach einer Kundgebung gegen Wohnungsnot Ende April besetzt worden. Zwölf Tage danach hat sich die Familie im Erdgeschoss inzwischen wohnlich eingerichtet und erfährt vielfältige Unterstützung aus der Nachbarschaft sowie von Besuchern. Es ist die erste Hausbesetzung in Stuttgart seit 13 Jahren. Eine Räumung ist bisher noch nicht angedroht worden.

Unklare Verhältnisse

Das fünfstöckige Haus an der Wilhelm-Raabe-Straße im Stadtteil Heslach ist offenbar mehrfach verkauft worden. Die drei nicht besetzten Wohnungen sind seit Längerem bewohnt. Die Mieter leben jedoch in unsicheren Verhältnissen. Sie befürchten eine teure Luxussanierung, denn immer wieder sei renoviert worden. Die nun besetzte Wohnung im Erdgeschoss stand mehr als ein Jahr leer, diejenige im Dachgeschoss sogar mehrere Jahre.

Laut Informationen der Besetzter lebt die Eigentümerin in England. Sie sei am Montag nach der Okkupation im Beisein von zwei Polizisten aufgetaucht, um die Besetzer zur Aufgabe zu bewegen. Dabei habe sie sich jedoch schnell in Widersprüche verstrickt, erzählt Jörg. Demnach behauptete sie, dass sie die Erdgeschosswohnung an eine alleinerziehende Mutter mit Kind vermietet habe. Laut Jörg ist diese jedoch bisher nicht erschienen: »Wir würden umgehend hier wieder rausgehen«, sagt Adriana, »denn genau das wollen wir ja: den Leerstand beleben.« Inzwischen hätten sie beim lokalen Energieversorger EnBW versucht, einen Vertrag für die Lieferung von Strom und Wasser zu bekommen. Bisher sei ein solcher jedoch wegen eines fehlenden Übergabeprotokolls nicht zustande gekommen.

»Geben Sie uns Mietverträge!«

Am Tag der Besetzung veröffentlichte das »BesetzerInnenkollektiv Wilhelm-Raabe-Straße 4« unter dem Titel »Leerstand beleben« ihre Forderung nach Mietverträgen und eine Erklärung zu ihren Beweggründen: »Wir finden es absurd, dass Wohnungen leer stehen, während andere wohnungslos sind.« Außerdem schildern sie den »ganz normalen Wahnsinn« einer frustrierenden Wohnungssuche in Stuttgart. Die erleben viele Menschen in ähnlicher Form, wie Jörg von Nachbarn und Passanten inzwischen erfahren hat.

Die Reaktionen der Nachbarinnen und Nachbarn seien durchweg positiv, wie auch das Hoffest eine Woche nach der Besetzung gezeigt habe. Die Aktion werde als »Zeichen gegen Leerstand und Verdrängung« verstanden, denn »Wohnen ist ein Menschenrecht«. Von der Berichterstattung der lokalen Medien seien viele angenehm überrascht, berichtet Jörg. Das sei früher anders gewesen. Vor 13 Jahren hatten Jugendliche das Jugendhaus Degerloch besetzt, nachdem es umgebaut werden sollte. In der Berichterstattung der Lokalmedien wurden sie als Chaoten dargestellt.

Große Solidarität

Mehrere Transparente an Nachbarhäusern verdeutlichen die Unterstützung. Eine Solidaritätserklärung haben inzwischen etwa 20 Organisationen sowie 100 namentlich genannte Personen unterschrieben. Sie meinen, dass »die Lösung der Wohnraumfrage nicht der Profitgier der Spekulanten überlassen werden darf«. Sie müsse »im Sinne der Menschen geschehen«.

Thomas Adler, Stadtrat der LINKEN, zeigte sich ebenfalls solidarisch und beurteilt die Besetzung als »Reaktion auf ein Totalversagen der Stadtverwaltung in der Wohnungspolitik«, denn die Situation an der Wilhelm-Raabe-Straße 4 stehe »stellvertretend für die geduldete Spekulation« seitens der Stadt.

Von explodierenden Mieten und Mietwucher berichtet Ursel Beck von der Initiative Leerstandsmelder Stuttgart. Mit den 11.000 leer stehenden Wohnungen und einer ungenutzten Bürofläche von 200.000 Quadratmetern könne man in Stuttgart 30.000 Menschen unterbringen, ohne neu bauen zu müssen, so Beck. Die Stuttgarter Stadtverwaltung bezeichnet gegenüber der Lokalpresse zwar die erste Zahl als veraltet, liefert aber bisher auch keine aktualisierten Daten.

(*) die erwähnten Personen wollen nur mit ihrem Vornamen zitiert werden.

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