- Politik
- 1968 und Ostdeutschland
Radikaler Konformismus
1968 und das Glück der Erben - eine Bilanz aus ostdeutscher Sicht.
Wo man Geschichte nach Generationen verrechnet, ist der analytische Ehrgeiz meist bescheiden. Höchstens bezeugt es publizistischen Geschäftssinn, etwa alle zehn Jahre ein neues Jahrgangskollektiv auszurufen. Bei der »68er-Generation« ist das anders. Wer diese Zahl als Emblem akzeptiert, beweist Gruppenloyalität und empfindet sich als von einem klar definierbaren Zeitgeist beflügelt. Gewiss werden Veteranen wie Apostaten »von 1968« Buchhandlungen und Bibliotheken 2018 wieder um einige Regalmeter Erinnerungsliteratur erweitern.
Die Verbindung von Selbstbezogenheit und Weltmission jenseits aller konkreten, etwa nationalgeschichtlichen Haftbarkeit prägte früh diese Kohorte. Man sah und sieht sich im Kontext weltweiter Kämpfe. Noch die Managerin aus dem Taunus, die heute ihren Gehaltsrückstand gegenüber dem Kollegen beklagt, erlebt sich als Leidensschwester der Näherin in Bangladesch. Doch was die westdeutsche Studentenbewegung von 1967-69 so speziell machte, gehört eher zur Nachkriegsgeschichte der BRD als zu den weltweiten Umbrüchen. Die Askese der Aufbaujahre war nicht länger plausibel, Konsum längst gesamtwirtschaftliche Forderung. Das Unbehagen am puren Leistungsprinzip wuchs; Sinnfragen einer entwickelten Industriegesellschaft, verstärkt durch die frontstaatliche Sauerstoffarmut.
Der Autor ist Historiker und arbeitet als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: Der ferne Westen. Umrisse eines Phantoms, edition fatal, München 2017, 192 S., br., 15 €.
Hier erst kam das Nationale ins Spiel, dem diese erste Friedensgeneration zunächst durch Weltrevolution, später durch Ich-Esoterik auszuweichen suchte: Nazideutschland hatte einen Krieg begonnen, den der Osten verloren und der Westen gewonnen hatte. Bald sprach man dort von »den Alliierten«, als wären es die eigenen gewesen. Die Jungen profitierten von der ungleichen Teilung des Landes. Materielle Basis ihrer revolutionären Erregung waren Marshallplan und Wirtschaftswunder, garantiert von den besiegten Eltern und den fremden Siegern. In dieser auch selbst verschuldeten Abhängigkeit lag sicher eine Demütigung. Sie sollte später zu aggressiver Abwehr gegen Klassen wie Völker mutieren, die materiell Gleiches begehrten.
Als revoltierende Bürgerkinder waren die West-68er sozial wie national isoliert, und diese Enge ihres Horizonts wirkt bis heute. Die frühzeitige Entlassung aus der deutschen Schuld(en)geschichte trennte sie von den Studenten des Pariser Mai ’68, welcher der Revolte den Namen gab. Auch jene wollten durch - vermeintlich arbeiternahes - marxistisches Vokabular ihre Herkunftsenge revolutionär verlassen. In den Erniedrigten dieser Erde suchte man Verbündete gegen die bürgerlichen Väter. Doch war der Bezug zu Welt und Geschichte in einer sinkenden Kolonialmacht handfester. Wie weit durfte man noch weißer, studierter, privilegierter Franzose sein, wenn man sich mit den »Verdammten dieser Erde« (Frantz Fanon) verbünden wollte, etwa in Algerien?
Die bundesdeutschen 68er dagegen waren Kinder einer Generation, die sich aus der Weltgeschichte beurlaubt sah. Das zeigte sich im Protest gegen den US-Vietnamkrieg. Nirgends in Europa schwang darin so viel arglose Empörung mit wie in der BRD: Wie konnten die Befreier von 1945 nur einen schmutzigen Krieg führen? Heute preisen die Ex-Bewegten Westbindung und Demokratieimport als eigene Erfolgsgeschichte. Diese aber hatte vor allem gezeigt, dass man mit tüchtigen (Ex-)Nazis alles aufbauen kann, auch eine funktionierende Parteiendemokratie. Das verurteilte die Revolte zum ideologisch-kulturellen Oberflächensturm wie zur negativen Dauerbindung an die Elterngeneration.
Der Faschismusverdacht, -vorwurf, -vergleich gehört seither zum rhetorischen Standard in der BRD. Die Revolutionäre an Universitäten waren angetreten, um - wenigstens posthum - mit dem Nazismus aufzuräumen, mit dem Kapitalismus ohnehin. Doch weder die Herausbildung des Sozialstaats noch die juristische Neubewertung der NS-Verbrechen sind ihr Verdienst. Die Hochschulreform und andere Modernisierungen, etwa zur Berufstätigkeit der Frau, gingen vom »System« aus. Ein Generationswechsel in Wirtschaft, Politik, Verwaltung stand ohnehin an.
Die 68er waren kulturrevolutionäre Trittbrettfahrer struktureller Zwänge. Als Mitläufer des Zeitgeistes ideologisierten sie das Mitläufertum der Eltern zum Versagen aus falscher Idee. Die richtige mixten sie aus Mao, Marx und Freud; der Staatsmarxismus wirkte dagegen philosophisch solide. Introspektion prägte ihre »Vergangenheitsbewältigung«; reale Buße in Form materieller Wiedergutmachung und staatlicher Umerziehung fehlte - die Re-Education hatte eher apolitischen Konsum- und Geschäftssinn begünstigt. Typisch daher der symbolpolitische Zugang zur NS-Zeit, seine Selektivität. Das Leiden etwa sowjetischer Zwangsarbeiter betrachtet der 68er bis heute recht kühl.
Auf der Suche nach Befreiungsbedürftigen schied das heimische Rumpfproletariat in Bausch und Bogen aus. Schimpf und Häme trafen bald die »vom System Korrumpierten«. Die Verachtung des »Prolls« und das Bedürfnis, sich ihm gegenüber ideen- wie warenkonsumtiver Überlegenheit zu versichern, ist längst Kulturnorm bei den Ex-Bewegten. Auch hierin, zumal nach dem Anschluss der DDR, fand nur ein seinerseits kleinbürgerliches Abgrenzungsverlangen zu sich selbst.
Veteranen von ’68 behaupten gern, die verschwärmte Abstraktheit des Revolutionsidioms sei utopischer Überschwang gewesen, Forderung des Unmöglichen, um das Mögliche zu erreichen. Das wirklich Erreichte aber, das westdeutsche Sozialsystem, entsprang der Systemkonkurrenz. Seitenverkehrt spiegelte es die Schaufensterpolitik östlicher Staatsökonomien. Die 68er waren Sprösslinge einer Massenverbürgerlichung: Mitte der 1960er Jahre zählten bereits drei Viertel der Westdeutschen zur Mittelschicht. Bürgerlichkeit als Lebensform der Masse, das machte auch das bürgerkindgemäße Anstänkern gegen die Eltern zum Massenphänomen. Massenhaft schließlich der Rückzug in die Apolitie der 1970er mit ihren alternativen Schrebergärten, etwa in Westberlin. Musste man überhaupt noch Linker sein, wenn einem die Arbeiterklasse abhandengekommen war? Gab es global nicht bedürftigere Leidenskollektive, mit denen man sich per WG-Plakat solidarisieren konnte? Bereits um 1980 wurden aus Hausbesetzern Hausbesitzer, spätestens 1989/90 hatte man die eigene Bürgerlichkeit entdeckt.
Ex-Akteure des »Revolutionären Kampfes« wie der spätere »Welt«-Chef Thomas Schmid fanden nun »viel Vorbürgerliches« in der DDR-Bürgerbewegung, das schrieb er 1991. Deren sanfter Umsturz eröffnete den Radikalen von einst unerhoffte Karrieren. Nach alternativ verbummelter Lebenszeit beerbten sie abermals fremde Leistung. Sie strömten in den verachteten Osten, wo sie ihre Version der Geschichte in Instituten der Totalitarismusverarbeitung verkündeten. Und wer dort keine Beute mehr fassen konnte, bekriegte die Neubürger als Subventionskonkurrenten.
Gerade aus der einst maoistisch oder trotzkistisch kostümierten Westlinken schlug den Ostlern unverwandter Hass entgegen, durchmischt mit wohlwollender Verachtung für die Bürgerbewegten. Die Ex-DDRler hätten »die Utopie« durch Falschwählen vergeigt - oder hätten dieselbe den Handlangern der falschen Besatzungsmacht viel früher entreißen müssen! Auf totalitäre Verblendung und Konsumismus lautete das altlinke Urteil über die Neubürger - in präziser Projektion ihrer eigenen Existenz.
Das Ressentiment vieler Intellektueller von ’68 gegen ihre Ost-Pendants, der Eifer, diese in ein Schema von Westlichkeit, Bürgerlichkeit, Zivilisiertheit kontra ost-proletarische Verwahrlosung zu pressen, rührt oft aus lebensgeschichtlichem Defizit. Im Osten trafen sie auf eine Generation, für die eine abgeschlossene Ausbildung, früher Erwerbsbeginn, privater und beruflicher Verantwortungsdruck normal waren. Hier zwang der Staat zum Erwachsenwerden. Ganz zu schweigen von der Erfahrung des Systemwechsels.
Bereits dieser Erkenntnisvorsprung erhob den Ex-DDRler über den Ex-68er, der dem Käfig der Freiheit nie entrann. Revolutionär war dieser oft im Zuschauen gewesen; in den 1970ern war der »Sympathisant« Normaltypus einer Verdruckstheit, die befriedigt registrierte, wenn irgendwo ein Kaufhaus brannte. Zum biografischen Untersicherheitsgefühl der 68er-Intelligenz kam das Wissen um Modernisierungsrückstände: Wie alle Ost-Diktaturen hatte auch die ostdeutsche mit Sexualparagrafen, Prügelstrafe oder gewissen Gattenrechten früh aufgeräumt. Ein blamabler Kontrast zu den mit »viel Gedöns« - Günter Gaus 1989 zu Daniel Cohn-Bendit - unternommenen Emanzipationsmühen der 68er.
Die Aversion gegenüber »prolligen« Neubürgern vollendete die Eingliederung der 68er in die westdeutsche Normal- oder, wie sie jetzt sagten, Zivilgesellschaft. Endlich hatten sie sich als Bürger erkannt. Aus der politischen Linken wurde eine kulturelle. Ihre aktuellen Kampfplätze sind das Gehalt von Hollywood-Aktricen und Gedichte an Häuserwänden. 1968 ist heute ein Symbol der guten alten Zeit der BRD, ihres Daseins im safe space der Geschichte.
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