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»Besetzungen sind ein legitimes Mittel des Widerstandes«
Armin Kuhn über die neue Hausbesetzerbewegung in den deutschen Städten
In Göttingen und Stuttgart wurden unlängst Häuser besetzt. Auch in Berlin haben Aktivist*innen eine Reihe von Besetzungen angekündigt. Sehen Sie ein Revival der Hausbesetzerszene in Deutschland?
Ein Revival ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt, aber erstaunlich ist es schon. Was besonders interessant ist: Die Besetzungen der letzten Monate haben sich nicht in der typischen Szene bewegt. Lange Zeit war ein linksradikaler Freiraum-Gedanken prägend, das ist nun anders. Das lässt hoffen, dass Hausbesetzungen wieder ein Mittel für städtische Kämpfe werden.
Armin Kuhn ist Politikwissenschaftler und Autor des Buches “Vom Häuserkampf zur neoliberalen Stadt”.
Was sind das für Menschen, die heute Häuser besetzen?
Da sind auch Linksradikale dabei, aber zusammen mit Leuten, die vorher nicht unbedingt verdächtig für dieses Thema waren. In Stuttgart haben Familien mit Kindern das Haus besetzt und sind sogar in die Wohnungen eingezogen. Getragen wird die Besetzung von einem breiten Bündnis, das von Initiativen über Verbände bis hin zur örtlichen LINKEN reicht. In Göttingen entstand die Besetzung im Unterstützerkreis der Geflüchtetenbewegung. Im letzten Jahr gab es in Bochum eine Besetzung, die von einem Nachbarschaftsnetzwerk getragen wurde.
Warum besetzen Menschen eigentlich wieder?
Die Besetzungen werden als ein Akt der Notwehr verstanden. Es ist vergleichbar mit der Situation in den 1980er Jahren: Wohnungsnot auf der einen und spekulativer Leerstand auf der anderen Seite. Damals standen ganze Stadtteile oder Straßenzüge leer, in der Erwartung saniert zu werden. Heute ist es verteilter, aber dennoch ist deutlich, dass es massiven Leerstand gibt – während es immer weniger bezahlbare Wohnungen gibt. Daher kommt der Impuls zu sagen: Gehen wir in die Wohnungen und nehmen sie uns.
Was sind die Unterschiede zu der klassischen Besetzerbewegung?
Heute gibt es nicht mehr so eine starke Stadtteilverankerung, weil die Struktur des Leerstands eine ganz andere ist. Damals kam es zur Flächensanierung, das heißt ganze Stadtviertel wurden entmietet in der Erwartung von Abriss und Neubau. Heute läuft das alles viel kleinteiliger. Es stehen oft nur einzelne Wohnungen in spekulativer Absicht leer. Das macht eine Identitätsbildung zu einem rebellischen Stadtteil schwer. Gleichzeitig hat auch die Politik gelernt, mit den Hausbesetzungen umzugehen. In den 1980er Jahren waren sie etwas Neues und oft gab es gar nicht die Mittel damit umzugehen. Heute gibt es Taktiken, wie die »Berliner Linie« und Häuser werden innerhalb von 24 Stunden geräumt.
Bei der klassischen Besetzerbewegung war die Staatskritik Teil ihrer Agenda. Könnte man sagen, dass es heute genau anders herum ist, also, dass es darum geht, den Staat an seine Aufgaben zu erinnern?
Ja, das ist tatsächlich ein Unterschied. Die Besetzungen von damals standen im Kontext der neuen sozialen Bewegungen, die sich auch stark gegen den als autoritär wahrgenommenen Wohlfahrtsstaat gerichtet haben. Die Flächensanierungen waren ein symbolischer Ausdruck davon. Die Kritik damals: Über den sozialen Wohnungsbau ordnet der Staat eine Zerstörung der Stadt an, mit dem Ziel, gesichtslose Neubauten zu errichten. Das ist heute anders. Zwar gibt es immer noch die subkulturelle Forderungen nach Selbstbestimmung und alternativen Lebensentwürfen, gleichzeitig aber den Appell nach staatlicher Intervention.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Ein gutes Beispiel ist das Haus der Zülpicher Straße in Köln, das 2015 besetzt wurde. 2016 hat die Stadt das Haus von dem Eigentümer angemietet. Jetzt ist sowohl ein öffentlich verwaltetes Wohnhaus für Geflüchtete als auch ein selbst verwaltetes linkes Wohnprojekt.
Den Besetzer*innen geht es aber um mehr als die eigenen vier Wände?
Ich nehme Besetzungen viel stärker als ein Mittel zur Skandalisierung und für die Kritik gegen steigende Mieten und Verdrängung wahr. Aber die Besetzung in Stuttgart hat mich überrascht, weil dort tatsächlich Leute mit ihren Kindern in die Wohnungen eingezogen sind. Das ist etwas sehr Kraftvolles.
Andere Länder, wie England oder die Niederlande, haben einen deutlich progressiveren Umgang mit Hausbesetzungen. Wäre das auch ein Weg für Deutschland?
Das war früher mal so. Sowohl in England als auch in den Niederlanden wurden Besetzungen mittlerweile kriminalisiert, nachdem sie zuvor viele Jahrzehnte unter bestimmten Umständen legal waren. In den Niederlanden war es zum Beispiel möglich, Wohnungen oder Häuser zu besetzen, die länger als ein Jahr leer standen. Die Besetzungen konnten auch nicht geräumt werden, solange die Eigentümer nicht ein Konzept für die Sanierung oder Instandsetzung dieser Häuser vorlegten. Ich glaube, dass das tatsächlich auch ein Mittel für Deutschland wäre, um mit dem Problem des spekulativen Leerstandes umzugehen. Die Städte tun sich nämlich sehr schwer dagegen vorzugehen.
Warum ist das so?
In den meisten Städten gibt es einfach keine rechtliche Grundlage. In Hamburg ist die Stadt vereinzelt gegen Leerstand eingeschritten, auch in Berlin ist dies nun mit der neuen Zweckentfremdungsverbot-Verordnung in bestimmten Fällen möglich. Dennoch: Das grundgesetzliche Gebot, dass Eigentum verpflichtet, muss viel konsequenter umgesetzt werden. Und zwar, indem man Besetzungen unter bestimmten Bedingungen legalisiert und Eigentümer nur gegen Auflagen die volle Verfügung über ihre Häuser wiederherstellen können.
Besetzungen sind für Sie also ein legitimes Mittel des Widerstandes?
Wenn Wohnungen, die momentan über Jahre leer stehen, Mieter vergrault werden oder es für die Bewohner kaum noch möglich ist, überhaupt Wohnungen zu finden, sind Besetzungen für mich legitim.
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