• Politik
  • Debatte nach Vorfall in Hitzacker

Entsetzen auf allen Seiten

In Niedersachsen wird über eine Demonstration vor dem Privathaus eines Polizisten diskutiert

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Jahr nach den Protesten in Hamburg gegen den G20-Gipfel kocht die Debatte um »linke Gewalt« wieder hoch. Anlass war eine Demonstration am Freitagabend vor das Haus eines Polizeibeamten im niedersächsischen Hitzacker. Die Polizei spricht in diesem Zusammenhang gar von einer »neuen Qualität der Gewalt«.

Grund für die Demonstration war der Staatsschutzbeamte Olaf H., der »seit Monaten linke Projekte im Landkreis Lüchow-Dannenberg malträtiert«, wie es in einer Pressemitteilung des nahegelegenen linksalternativen Tagungszentrum Meuchefitz heißt. Ziel der Demonstration sei es gewesen, sein polizeiliches Verhalten zu skandalisieren – der Beamte ist auch zuständig für politische Straftaten.

Nach eigener Aussage sammelten sich rund 80 Demonstrierende vor dem Haus des Beamten und spielten Musik. H. sei nicht zuhause gewesen, seine Frau und seine Kinder allerdings schon. Während des spontanen und friedlichen »Straßenmusikkonzerts gegen Repression« sei vor dem Haus auch eine YPG-Fahne gehisst und weitere Flaggen der kurdischen Freiheitsbewegung angebracht worden. Diese wurden aufgehängt, um gegen die Beschlagnahmung eines großen YPG-Transparents im Gasthof Meuchefitz im Februar zu protestieren. Damals stürmte eine Hundertschaft vermummter und mit Maschinenpistolen bewaffneter Polizisten den Hof und beschlagnahmte ein Transparent, auf dem »Afrin halte durch! Türkische Truppen & Deutsche Waffen morden in Rojava! Es lebe die YPJ/YPG!« zu lesen war.

Bei der Aktion am Freitagabend, bei der auch Kinder und ältere Menschen anwesend waren, tauchte nach ungefähr 15 Minuten die Polizei auf. Zuerst habe sie nicht eingegriffen und die Aktivist_innen hätten den Platz verlassen, erklärten die Aktivisten. Auf dem Rückweg seien sie dann von einer Hundertschaft »überfallen« worden. Dabei seien zehn Personen verletzt und alle Beteiligten erkennungsdienstlich behandelt worden. Besonders pikant: Der 73-jährige Aktivist Hansel Sauerteig aus dem Wendland äußerte sich in einem Video, dass er beobachtet habe, wie der Staatsschutzbeamte H. selbst bei dem Einsatz beteiligt gewesen sei. Nach dieser Darstellung soll er auf bereits fixierte und auf dem Boden liegende Aktivist_innen eingetreten habe.

Gespräch mit Hansel Sauerteig

Diese Vorwürfe würden momentan intern »geprüft«, so Kai Richter von der Polizeiinspektion Lüneburg im Gespräch mit »neues deutschland«. Natürlich sei bei der Aktion durch die Polizei »unmittelbarer Zwang« ausgeübt worden. Ob H. jedoch beteiligt war und die Vorwürfe der Aktivist_innen zutreffen, sei aktuell noch nicht zu klären. »Gegebenenfalls würden wir auch ein Ermittlungsverfahren einleiten.«

Den teils vermummten Demonstranten wird nun »Beleidigung, Bedrohung, Hausfriedensbruch und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen«, so Richter weiter. Derzeit laufen Ermittlungen gegen 55 Demonstrant_innen. Es werden außerdem Videos der Polizei sowie auch Aufnahmen von Demonstranten ausgewertet. Geprüft werde, was tatsächlich strafrechtlich relevant sei.

Unterstützung von der Politik werden die Demonstrant_innen dabei nicht erhalten. Die Aktion stößt bundesweit auf Kritik. Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sprach bei Twitter von »linksfaschistische Kriminellen«. Und der Chef der Jungen Union, Paul Ziemiak (CDU), forderte eine Ausweitung des Vermummungsverbots.

Doch nicht nur von konservativer Seite hagelt es Kritik. Auch Linkspartei, Grüne und SPD verurteilten die Aktion scharf. Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) sei von der Aktion »absolut entsetzt.« Auch Dietmar Bartsch, LINKEN-Fraktionschef im Bundestag, hat sich distanziert: »Es ist prinzipiell nicht akzeptabel, wenn Staatsbedienstete und ihre Familien belagert und bedroht werden«, so Bartsch. Der Sprecher für Innenpolitik der Grünen im niedersächsischen Landtag, Belit Nejat Onay, sprach »dem Polizeibeamten und seiner Familie unser Mitgefühl« aus. Die Vorfälle seien »besorgniserregend« und würden an »Wildwest-Methoden« erinnern, so Onay. Die Grünen fordern eine schnellstmögliche Aufklärung des Vorfalls und werden eine Unterrichtung im Innenausschuss beantragen.

Dass sich nun selbst diese Parteien in Law-and-Order-Rhetorik überbieten, zeigt die Diskursverschiebung rund um das Thema Polizeigewalt und linker Protest. Mit Repressionen bei den G20-Protesten vor etwa einem Jahr in Hamburg, der größten Öffentlichkeitsfahndung der deutschen Geschichte, und dem neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetz werden neue Standards gesetzt. Man muss Aktionen wie in Hitzacker nicht gutheißen. Aber die Reaktionen der dem »linken Lager« zugerechneten Parteien zeigen, wie sehr auch sie der Mär der angeblich linken Gefahr, die von rechtsaußen wiederholt kolportiert wird, aufliegen – und dies in einem Land, in dem nach Regierungsangaben aktuell 1200 Reichsbürger und 750 Rechtsextreme eine Waffenerlaubnis und damit eine scharfe Waffe besitzen.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.