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Sieh deine Hausschuhe vorm Bett
Im Sommer 1914 brach eine von Ernest Shackleton geführte Expedition zur Antarktis auf. Erst 2017 kehrte man zurück. Reinhold Messner beschreibt in »Wild oder Der letzte Trip auf Erden« den Überlebenskampf von Shackleton und seinen Männern
Ein Mensch, der mit Energie hinaus will ins Eis oder hinauf auf den Berg - er sagt auf gänzlich andere Art »ich« als jener Bürger, der eine Überdachung braucht, um bestehen zu können. Aber die wahrhaftigste Botschaft des Abenteuers, sie zielt gar nicht so sehr auf Kraft, sondern - paradox? - aufs Ereignis der Verwundbarkeit. Des Lebens echteste Spur zieht sich beim Abenteurer durchs Grenzland von Selbstverschwendung und - Selbstzerstörung. Die es zu verhindern gilt. Jedoch: Immer dort, wo ein Sieg präsentiert werden kann (»die Eroberung des Nutzlosen«, sagt Werner Herzog), dort genau geht es um eine sehr siegferne Idee von Erfolg: Denn nicht der Held macht prägende Erfahrungen, sondern die frierende Kreatur. Jede Ausfahrt produziert im Grenzgänger auch die Sehnsucht eines Geschlagenen: zurück zu wollen - um daheim dann erneut dem Trieb ausgesetzt zu werden, alle Wärme zu verlassen. Das ist das Krankheitsbild des Romantikers. Was reizt, ist die Doppelexistenz zwischen den Kulturräumen, zwischen Rückversicherung und Rücksichtslosigkeit.
Im Sommer 1914 verlässt die »Endurance« den Hafen von Buenos Aires. 27 Männer sind beseelt vom großen Ziel: die Antarktis zu durchqueren. Jedes Mitglied der Schiffsbesatzung hat dem Kontrakt zugestimmt, den der britische Expeditionsleiter Ernest Shackleton in den Kurztext einer so werbenden wie warnenden Zeitungsannonce gefasst hatte: »Männer für waghalsige Reise gesucht. Geringe Löhne, extreme Kälte. Monatelange Dunkelheit. Sichere Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Falle eines Erfolgs.« Vom Fotografen Frank Hurley wird es Bilder geben: weltberühmte Momente eines Irrwitzes, einer Tragödie. Denn kurz nach Ankunft in der Antarktis macht das Packeis seinem Namen bitterste Ehre. Es packt und malmt das Segelschiff, sechs Monate bleibt die Expedition in den Fängen des eisigen Todes.
Reinhold Messner - größter Abenteurer unserer Zeit, selber beheimatet in den Extremen körperlicher, psychischer Wagnisse - hat die Geschichte dieses Dramas aufgeschrieben, aber erstmals mit Blick auf Shackletons Stellvertreter Frank Wild: »Wild oder Der letzte Trip auf Erden«. Der Kern glänzt eisig: »Es geht um die schlimmste, menschenfeindlichste Natur, die wir kennen, und die Menschennatur auf der anderen Seite, die miteinander in den Kampf kommen.« Kampf um die Bewahrung dessen, was stets »unsere letzte Hoffnung ist: der Selbsterhaltungstrieb.«
Im Herbst 1915 presst das Eis die »Endurance« endgültig zum Wrack. Die Mannschaft driftet monatelang auf Eisschollen. Durchquert dann in kleinen Booten offenes Frostwasser. Bis zu fünfzig Grad minus. Hunger. Halluzinationen. Egoismen und Ängste. Endlich, nach fast fünfhundert Tagen, fester Boden: Elephant Island. Aber wimmere!, schrei!, bete! - niemand hört dich. Einsamkeit trifft Wahnsinn - es ist alles so schlimm und so dämonisch, als wolle man Gott anrufen, hat aber seinen Namen vergessen. Als friere selbst die Kälte. Shackleton fährt mit ein paar Männern wieder los, zur Hilfesuche mitten in der Hölle. Nun wird Frank Wild der Verantwortliche sein, für 22 Zurückbleibende. Erbärmliche Zuflucht unter zwei defekten Rettungsbooten. Dunkelheit. Erfrierungen. Krankheit. Jeder endlose Tag schrammt an der einzig rettenden Idee vorbei: dem kollektiven Freitod. Wild vollbringt das Wunder. Er hält die Männer, in all dem Verzweifeln, am Leben. Vier Monate Nacht und Not. Bis »Shack« endlich aus Südgeorgien zurückkommt, mit einem Schiff, nach 1500 Kilometern Odyssee durch die Leere.
Wild ist »ein einfacher Seemann, ein kleines, unscheinbares, glatzköpfiges Männchen«. Das aber im unfassbaren Überforderungssog zum charismatischen Zutrauensspender wird. In Not wird dieser fortwährende »zweite Mann« in Kräfte getaucht, die ihm selber nicht geheuer sind. Messner beschreibt das bewundernd, beseelt, berührt. Mit grimmigem Dialogwitz. Shackleton hatte in Eises Fron auf eine Insel verwiesen, »346 Meilen nordwestlich von uns - vor zwölf Jahren hat eine schwedische Mannschaft dort überwintert.« - »Vor zwölf Jahren, eine gute Nachricht.«
Immer wieder trieb es Messner selber in jene gnadenlosen, gnadenvoll schönen Polarfelder, viele Jahrzehnte nach dem Drama, und immer wieder sein Grübeln: Wie und warum? John Franklin suchte den Weg durch die Nord-West-Passage, Fridtjof Nansen fuhr mit der »Fram« hinaus, Roald Amundsen betrieb das südpolare Duell gegen Robert F. Scott. Immer aufs Neue: grandios furchtlose, grausam furchterregende Expeditionen. Männlichkeitshymnen und zugleich Erbarmensschrei. Messner: »Ich glaube, dass wir alle im Unterbewusstsein wissen, dass das Leben absurd ist.«
Die Absurdität als Reiz - und als Trost. Der in jener Einsicht besteht, dass Rettung immer Glückssache ist. Im Kleinen wie im Großen. Niemand hat - historisch, gesellschaftlich - die gültige Versicherungspolice in der Hand: dass Menschheit etwas sei, das gut ausgeht.
1917 kehrte Shackletons Expedition - ein Wunder - in die Zivilisation zurück. Die Tragödie hatte damit aber kein Ende: Der Erste Weltkrieg greift nach den Männern, ihr polares Heldentum verblasst vorm europäischen Millionenleid. Nach dem Eis packt das Vergessen zu, Frank Wild stirbt 1939 arm und elend. Vorher noch dies: Er errichtet Baumwollplantagen in Südafrika. Statt Eis nun Hitze, statt Skorbut nun Malaria. Da trifft ein Telegramm ein: Shackleton lädt zur nächsten Antarktisexpedition. Wild folgt sofort.
Messner schrieb dieses Buch gleichsam aus dem eigenen Leben heraus. Ein Buch, das mitten im Scheitern, mitten im fiebernd Entmenschten doch weiter die Schönheit preist: der Antarktis, des Wagemuts, des Lichtschachts in den Albträumen. Ein Buch über jenes Verwirrungsrecht, das die Leidenschaft ausübt, wenn sie ein Bewusstsein besetzt. Leidenschaft, die das Ungenügen am Gleichmaß der Dinge derart steigern kann, dass just das tödliche Risiko zum Rettungsanker für Wege zum gelingenden Leben wird.
»Wild«: Hier testete sich Schöpfung auf ihre Fähigkeit zu totaler Erschöpfung - um sie zu ignorieren. Erst die Unvernunft eines Vorhabens prägt dessen hypnotischen Charme. Das Buch endet mit Ernst Jünger. Die Polarforscher? »Da verkamen im eisigen Dunkel die Vorposten jener, die den Stern zwingen.«
Du liest das und hörst zeitgleich Nachrichten von eingestelltem Bahnverkehr, winterlich bedingten Übernachtungszwängen in Hotelzügen und Stromausfällen. Abenteuer? Gegenwart besteht hauptsächlich aus risikofreien Geisteswelten, und Utopien dürfen nicht zugeben, was sie in Wahrheit sind: unverbindliches Zukunftsgesumm von politischen Eintagsfliegen. Und ringsum Menschen, die dich fortwährend aus dem Gleichmaß ihres Lebens anlächeln. Du selber bist doch einer davon! So konservieren wir das Bewusstsein der Langeweile als Weisheit, ja, wir wissen genau, was Tod ist: schon mit fünfzig so leben, wie man mit achtzig dann auch sterben wird. Ach, träum verwegen, wie du willst: Die Hausschuhe vorm Bett bewegen sich nicht. Dies Elend redet keiner klein.
Reinhold Messner: Wild oder Der letzte Trip auf Erden. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 308 S., geb., 20 Euro.
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