- Politik
- »Asylkompromiss«
Als Deutschland dichtmachte
Vor 25 Jahren wurde durch eine Grundgesetzänderung das Asylrecht eingeschränkt
»Ansturm der Armen«, so hatte der »Spiegel« getitelt, illustriert mit einer überquellenden Arche, auf die eine nicht endende Masse an Menschen an Leitern zu gelangen versuchte. Es war nicht das Jahr 2015, sondern 1991, und das wiedervereinigte Deutschland befand sich inmitten einer »Asyldebatte«, war auch fast vierzig Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen laut der regierenden Union hochoffiziell »kein Einwanderungsland« - und Asylbewerber nannte man noch »Asylanten«. Die um Schutz Ansuchenden kamen nicht aus Syrien oder Afghanistan, sondern aus Ostereuropa, dem zerfallenden Jugoslawien sowie der (Ex)-UdSSR. 438 191 Asylanträge wurden im Jahr 1992 in der Bundesrepublik gestellt, mehr als ein Viertel dieser Menschen kamen aus Jugoslawien.
Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt ein weltweit einzigartiges Asylrecht. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 hieß es im Artikel 16: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Dieser Artikel wurde mit dem Bundestagsbeschluss vom 26. Mai 1993 massiv eingeschränkt - vor allem durch die Einführung der Drittstaatenregelung. Da alle Nachbarländer der Bundesrepublik zu sicheren Drittstaaten erklärt wurden, bedeutete der »Asylkompromiss«: De facto hat kein politisch Verfolgter, der auf dem Landweg nach Deutschland kommt, mehr Anspruch auf Asyl. Doch der »Asylkompromiss« umfasste noch mehr: Das Prinzip der sicheren Herkunftsländer wurde im Gesetz implementiert. Durch die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes - es ging im Wesentlichen darum, Geld durch Sachleitungen zu ersetzen und die Ansprüche auf ein Niveau unterhalb der Sozialhilfe zu drücken - und die Einführung der Residenzpflicht wurden die Lebensbedingungen von Asylbewerbern verschlechtert.
Den Boden für diese weitreichenden Einschnitte hatte die »Asyldebatte« bereitet. Geführt von Medien und Politik, befeuerte sie rassistisch motivierte Gewalt und Pogrome, die allein im Jahr 1992 mehr als 30 Menschen das Leben kosteten. Vor allem die Unionsparteien, von rechts in Bedrängnis geraten durch die Republikaner, die bei den baden-württembergischen Landtagswahlen 1992 10,9 Prozent der Stimmen erhalten hatten und auf mehr als 20 000 Mitglieder angewachsen waren, machten sich die Situation zunutze.
Schon in den Jahren vor der Wende hatte die Union darauf gedrängt, das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf Asyl zu schleifen - war dabei jedoch an den Sozialdemokraten und der für eine Änderung des Grundgesetzes im Bundestag erforderlichen Zweidrittelmehrheit gescheitert.
Anfang der 1990er Jahre war die Situation eine andere. Unter dem Druck der heraufbeschworenen »Staatskrise« änderte die SPD ihre Position: Mit der sogenannten Petersberger Wende ermöglichte sie es sich selbst, dem »Asylkompromiss« zuzustimmen, auch wenn - die Entscheidung unterlag keinem Fraktionszwang - einige SPD-Abgeordnete gegen diesen votierten. Maßgeblich beteiligt an dieser Wendung nach rechts war neben dem damaligen SPD-Parteichef Björn Engholm der heutige Linksparteipolitiker Oskar Lafontaine.
Der »Asylkompromiss« war eine - von Teilen der politisch Verantwortlichen bewusst herbeigeführte - Kapitulation vor Rassismus und Ressentiment. Die Täter von Mölln waren zum Zeitpunkt, da er das Parlament passierte, noch nicht verurteilt, eine Trauerfeier mit den Hinterbliebenen zu besuchen, lehnte Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich als »Beileidstourismus« ab. Bei dem Brandanschlag waren zwei Mädchen und eine Frau getötet worden.
»Die Veränderungen, die die Behandlung des sogenannten Asylproblems schon jetzt in der politischen Landschaft der Bundesrepublik bewirkt hat, sind gewaltig und deprimierend«, konstatierte in der stundenlangen Bundestagsdebatte am 26. Mai 1993 der PDS-Abgeordnete Gregor Gysi. »Es waren Politikerinnen und Politiker, die die Begriffe von Scheinasylanten, von Flüchtlingsströmen, von Wirtschaftsflüchtlingen, vom Asylmissbrauch (...) und das schlimme Wort vom Staatsnotstand in die Debatte brachten, und solche Worte zeigen Wirkung. All jene, die in der beschriebenen Art und Weise die Asyldebatte führten und führen, haben an rassistischen und ausländerfeindlichen Pogromen als intellektuelle Urheber ihren Anteil«, stellte er fest.
Das die Grundgesetzänderung vorbereitende Narrativ, dessen sich auch Teile der SPD bedienten, lautete: Die steigende Zahl von Asylanträgen sei ursächlich für die rechten Anschläge - auch Politikverdrossenheit wurde auf die vielen Asylbewerber zurückgeführt. Dies war insofern bequem für die Bonner Politik, weil die »Asyldebatte« so auch dabei half, Wut über den Ausverkauf des Ostens, wachsende Arbeitslosigkeit und enttäuschte Hoffnungen umzulenken - ganz ähnlich wie heute nutzten Politiker existierende Ressentiments, um Arme gegen Arme auszuspielen und das Asylrecht anzugreifen.
Man entledigte sich scheinbar der Verantwortung für soziale Probleme im Land und den wachsenden Rassismus, indem man für beides Asylbewerber verantwortlich machte. »Deutschland ist kein Einwanderungsland und kann als dicht besiedeltes Gebiet auch kein Einwanderungsland werden. Die Aufnahmekapazität unseres Landes und unserer Bevölkerung darf nicht überfordert werden. Wer dies tut, fördert Fremdenfeindlichkeit«, befand der CSU-Politiker Michael Glos in der erwähnten Parlamentsdebatte. Alfred Dregger (CDU) sekundierte: »Asylsuchende Frauen mit viel Zeit bringen ihre Kinder zu Lasten von berufstätigen deutschen Müttern unter. Es endet bei der Kriminalität. Gerade letzteres zeitigt natürlich Reaktionen.«
Von der PDS, deren Abgeordnete 1993 gemeinsam mit den Grünen gegen den »Asylkompromiss« stimmten, verlangte die Debatte zu Beginn der 1990er Jahre, sich eine Position zum Thema Flucht und Migration zu erarbeiten. In der damaligen Debatte in der PDS gab es zwei Linien: Die eine Seite wollte die Forderung nach offenen Grenzen für alle festschreiben. Die andere plädierte dafür, das Asylrecht zu erhalten, verwarf aber offene Grenzen für alle als unrealistische Wunschvorstellung. Aufgelöst wurde dieser Streit damals mit einem Kompromissbeschluss auf dem PDS-Parteitag im Dezember 1991 - offene Grenzen als Voraussetzung dafür, das Recht auf Asyl wahrnehmen zu können, wurden in dem dort beschlossenen »Leitantrag zur Asyl- und Flüchtlingspolitik« festgeschrieben - zudem wurde eine Formulierung gefunden, die wirtschaftliche und soziale Not als Fluchtgrund benannte, letztlich aber offen ließ, was genau »Not« sei.
Zwar kam es danach zu »immer wieder öffentlich ausbrechende Debatten« (Knut Melenthin 1992 in »ak«), die zeigten, dass der Kompromiss in der Partei durchaus umstritten war. Dennoch hielt diese Positionierung - zu der auch die Forderung nach der Beseitigung aller gesetzlichen Diskriminierungen für Nichtdeutsche gehörte - fast 20 Jahre lang. Bis sich die aus PDS und WASG hervorgegangene Linkspartei 2011 ins Erfurter Programm schrieb, man fordere »offene Grenzen für alle Menschen«. Eine Formulierung, die seit dem Sommer der Migration 2015 Quell einer kontroversen Debatte ist.
Auch wenn sich 1993 die Asylrechtsschleifer durchgesetzt haben: Ohne Widerspruch blieb der Eingriff nicht. In Bonn demonstrierten am Tag der Entscheidung Tausende gegen den »Asylkompromiss«. Und die am meisten Betroffenen begannen sich zu organisieren, wie 1994 mit der Gründung von »The Voice Refugee Forum« durch afrikanische Asylbewerber in einem thüringischen Flüchtlingslager. Bis zur Besetzung der Berliner Oranienplatzes 2012 blieb das Thema allerdings migrantischen Selbstorganisationen und linken Gruppen vorbehalten. Aus der öffentlichen Debatte verschwand es für viele Jahre weitgehend - auch, weil die Asylrechtsbeschneidung im Sinne ihrer Erfinder funktionierte: Die Anträge gingen zurück. Deutschland hatte dicht gemacht - und blieb es bis zum kurzen Sommer der Migration 2015. Seither schlägt das Pendel wieder zurück: Nicht nur in Deutschland wurde das Asylrecht weiter entkernt. In der EU droht, so warnt Pro Asyl, heute die »völlige Beseitigung des Zugangs zum Recht auf Asyl«.
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer spricht zum Jahrestag des »Asylkompromisses« davon, dass »mit der Änderung die Geschichte einer bis heute wirkenden Externalisierung« begonnen habe. Darüber hinaus war diese Änderung des Grundgesetzes vor allem ein erschütterndes Beispiel dafür, wie geschürte Debatten weitreichende politische Entscheidungen ermöglichen - auf Kosten ganzer Gruppen von Menschen. Nur wenige Tage nach der Bundestagsentscheidung verbrannten am 29. Mai 1993 im nordrhein-westfälischen Solingen fünf Türkeistämmige. Die geistigen Brandstifter - sie saßen auch in Bonn.
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