Unterm Regenbogen
Eine Schamanin in der Provence
Seit sechs Wochen bin ich nun in Frankreich. Zuletzt fuhr und quer durch die Provence über Uzès und Nîmes nach Sérignac zu dem Pianisten René Bottlang, dem Mann mit der Jurte im Garten. »Nach Süden, nach Süden wollte ich fliegen, um vor dem Winter abzuhaun.« Der Lift-Song von 1978 lässt mein Auto vibrieren. Auf dem Beifahrersitz ein Zweig mit frischen Kirschen von Renés Nachbarn, geht es in Richtung Route du Soleil, und ich rieche bereits das Meer.
Die ersten Vorboten des Südens sind die Zypressen am Horizont. Sie sehen von Weitem aus wie die »langen Kerls« des Preußenkönigs, die er 1806 nach dem verlorenen Krieg gegen Frankreich entließ. Immer mehr Palmen »wedeln« sich in die Landschaft. Zedern mit Kronen, die ganze Dörfer beschatten, und enorme Oleanderbüsche in kitschigem Rosa mäandern an Feldrändern. Die Felder selbst sind nach der ersten Ernte des Jahres blutrot durch die sich selbst aussäenden Mohnblumen.
René - der Name (re-nai-tre) bedeutet wiedergeboren - kommt aus Lausanne, wo er Musik studierte. Als wir an unserem Romantik-Lieder-Programm arbeiteten, lebte der Kosmopolit gerade in Wien. Auf der Suche nach einem Probenraum mit Flügel kam ich auf die Idee, in der deutschen Botschaft in Wien nachzufragen, wo man uns - in Ermangelung anderer Aufgaben? - fürstlich betreute. »Aber bitte nicht so laut«, sagte eine Mitarbeiterin, »der Botschafter liegt final erkrankt in seinen Privatgemächern direkt über dem Saal.« Der arme Mann starb später, obwohl wir den Flügel nie aufgeklappt hatten. Bei der Premiere des Programms 1994 im Berliner Schauspielhaus sang ich erstmals neben einem offenen Flügel und hatte das Gefühl, gegen das monströse Instrument ankämpfen zu müssen. Das gab dem ohnehin exotischen Programm eine anti-romantisch-avantgardistische Note.
Nach unserer Tournee hatte sich der »Wiedergeborene« 1995 in die Transsibirische Eisenbahn gesetzt und war nach Ulan Bator in die Mongolei gefahren. Dort kaufte er sich ein Pferd und war drei Jahre lang fern von bis dato gekannter Zivilisation unterwegs. Bald sprach es sich in dem Land - viereinhalb Mal so groß wie Deutschland, aber nur etwa drei Millionen Einwohner - herum, dass ein Schweizer Jazz-Pianist dort war. René wurde von Botschaft zu Botschaft gereicht, er gab Konzerte, die ihn mit Musikern aus der Mongolei zusammenführten, unterrichtete Jazz. Und: Er verliebte sich in Solongo, die in Ulan Bator Japanisch studierte und zu der Minderheit der Mongolen gehörte, die Englisch sprach.
Solongo heißt Regenbogen. Die Frau, die mittlerweile auch Französisch spricht und ein wenig Deutsch, macht gerade eine Ausbildung zur Restaurantköchin. Sie ist zum Anlaufpunkt der in Frankreich lebenden Mongolen geworden. Und so kam auch Tenger, die junge Schamanin, nach Sérignac. Für sie wurde die originale Jurte im Garten errichtet.
Tenger ist Mitte Dreißig. Wenn Solongo nicht zu Hause ist, haben wir keine Chance, miteinander zu kommunizieren. Aber wir versuchen es mit Bleistift und Papier, mit Gesten und Gegenständen, die wir auf dem Tisch aufbauen und zuordnen. »Schamanin wird man nicht, weil man es werden will, sondern weil man es ist. Und zwar bereits vor der Geburt«, sagt Tenger. »Der Animismus ist der verbreitetste Glaube in der Mongolei. Er beruht auf einer Art Kreditvergabe an die Elemente - Objekte, Pflanzen, Tiere, Seelen -, wobei die Menschen folgen müssen«, erklärt sie, während sie Chogy, der Mongolisch-Dolmetscherin aus Paris, Zoüa, einer Mongolin, die in Nîmes lebt, und Solongo bunte Cocktails mixt, dass mir bereits vom Zuschauen schlecht wird. »Für uns kommt nach dem blauen Himmel lange nichts«, sagt Solongo. »Dann aber kommt der Schamane, der mit den Geistern spricht. An unserer statt.«
Wenn Tenger eine Sitzung in ihrer Jurte anbietet, sind immer so um die acht bis zehn Mongolen anwesend, manchmal auch neugierige Leute aus dem Dorf. Für die übersetzt Solongo. Aber wenn Tenger dann in Trance ins Altmongolische wechselt, wird es auch für Solongo schwierig. Um ihrer Bestimmung - Schamanin - zu entsprechen, muss Tenger ihr Leben irgendwie finanzieren. Das macht sie täglich zwölf Stunden lang als Obstsortiererin am Fließband.
Ich frage die vier Frauen, ob sie mir vielleicht ein Lied aus ihrer Heimat vorsingen könnten. Kein Problem. Es ist ein Song mit gefühlt zehn Strophen, und alle vier Mongolinnen kennen den Text. Als ich am späten Abend noch einmal an Tengers Fenster vorbeigehe, sehe ich die vier Frauen mit ihren quietschbunten Cocktails auf ihre iPhones starren, dort laufen Youtube-Videos mit Barbara Thalheim.
Ich ducke mich unterm Fenster weg und gehe schnell zu Bett.
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