Der säkulare Calvinismus

Über Herkunft, Logik und Praxis der Ideologie des Positiven Denkens

  • Sarah Heinemann
  • Lesedauer: 7 Min.

Linke machen etwas ganz Grundsätzliches falsch. Sie sehen alles viel zu schwarz, viel zu negativ. Dabei könnten die Probleme der Welt, soziale Ungerechtigkeit und so weiter, doch viel simpler, schneller und auch effizienter gelöst werden! Wir müssten alle nur eine einfache Regel beachten: Jeder einzelne Mensch ist für sein Glück oder Unglück selbst verantwortlich. Motivation heißt das Zauberwort. Positives Denken ist die Religion des Kapitalismus, ihre Gurus machen in »Motivationstraining« oder »Persönlichkeitsberatung«.

Es geht hier nicht bloß um Optimismus. Der optimistische Mensch betrachtet seine Situation und Zukunft aus einer positiven Erwartung und handelt entsprechend. Die Ideologie des Positiven Denkens hingegen akzeptiert keine Form der Negativität und fordert eine radikale Abspaltung von negativen Gedanken, Gefühlen und Einflüssen, sogar von »negativen« Mitmenschen. Man muss stets auf der Hut sein. Schon die kleinste Spur des Negativen kann zum Scheitern des ganz großen Glücks führen!

Der Gedanke ist dabei zentral, erklärt uns diese Ideologie, nicht weltliche, von Realitäten verunreinigte Lagen und Handlungen. Positives Denken geht davon aus, dass jeder Mensch seine Welt allein kraft seiner Einstellung verändern könne. Menschen, die in Armut leben, haben sich diese demnach irgendwie gewünscht. Sie haben eine negative Einstellung zum Reichtum. Wenn sie reich werden wollen, sollten sie sich mit den Reichen über deren Reichtum freuen! Noch mal zum Mitschreiben: Die Welt ist bloß Wille und Vorstellung.

Die Anfänge dieser Ideologie liegen weiter zurück, als man gemeinhin vielleicht denkt. Sie bildet sich nicht erst in den New-Age-Fantasien und Hippiekommunen der 1970er Jahre, die - man denke an den Apple-Gründer Steve Jobs - das mentale Gerüst jenes esoterischen Hyperkapitalismus à la Silicon Valley hinterließen, das die Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron »kalifornische Ideologie« nennen. Das Neue Denken wurzelt zwar in der Neuen Welt, aber zu einer früheren Zeit.

Schon mit den ersten Kolonialschiffen kam auch ein mehr oder minder calvinistischer Protestantismus über den Ozean und sorgte, wie schon Max Weber weiß, für ein Klima von Unternehmensgeist und Selbstdisziplinierung. Doch machte der Calvinismus auch krank: Bist du erfolglos, hat Gott dich nicht lieb - kein erquickliches Bewusstsein für religiöse Menschen, gerade in einem neuen Land, wo nicht alles immer gleich klappt.

Angesichts dessen kam dem Erfinder und Uhrmacher Phineas Parkhurst Quimby (1802 bis 1866) um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Erleuchtung, dass es in solchen Fällen keinen anderen, liebevolleren Gottes bedürfe, sondern eine effektivere Bearbeitung der Menschen notwendig sei. So wurde er zum berufsmäßigen Gefühlsverbesserer und »besprach« seine Kundschaft mit positiven Gedanken. Und dieses Neue Denken, dieses säkularisierte - zugleich hochgradig spirituelle wie auch pragmatisch nutzbare, weil unmittelbar anwendungsbezogene - Folgeprodukt des Calvinismus hatte Erfolg.

Nach und nach entwickelten sich verschiedene Schulen - etwa um Dr. Joseph Murphy (1898 bis 1981), Dale Carnegie (1888 bis 1955) oder Norman Vincent Peale (1898 bis 1993). Deren Lehren gelangten verzögert nach Deutschland. Dort fallen sie seit etwa 1980 auf fruchtbaren Boden. Die Ratgeberbücher und Animationsprodukte eines breiten Marktes für Motivationssteigerung und Selbstoptimierung füllen bis heute Regale und Auslagen - sowie natürlich das Internet.

All diese Lehren ähneln sich im Grundsatz. Menschen allein - nicht Umwelt, nicht Staat, nicht Politik oder Gesellschaft - schmieden ihr Glück. Nur sie können durch Gedankenkraft die Welt nach ihren Wünschen gestalten. Zu erreichen ist dies durch Hypnose, positive Suggestionen oder Meditationen: Man lässt sich positive Sätze und Bilder wie ein Mantra einreden oder redet sie sich selber ein. Dabei schadet es nicht, religiös zu sein oder an Außerirdische zu glauben. Manche Gurus zitieren mit Vorliebe die Bibel, andere picken sich aus verschiedenen Religionen genehme Puzzleteile heraus. Und dann gibt es diejenigen, die mit einer geheimen Geisteswelt oder außerirdischen Energiewesen kommunizieren - wenn nicht persönlich, dann durch spiritistische Medien.

Benutzt werden in der Optimierungspraxis psychologische, philosophische und neurowissenschaftliche Konzepte, deren Funktionsweise zumeist im Dunkeln bleibt. Eine breite Sammlung an Geschichten, Anekdoten und Fallbeispielen soll die Wirksamkeit des Positiven Denkens beweisen. Merksätze werden wiederholt, Regeln, Normen und Gesetze für mehr Glück und positive Gedanken sollen oft auswendig gelernt werden. Die Gurus lieben es, Autorität herbeizuzitieren und ihre eigene herauszustellen: durch Doktortitel, eigene »Institute«, ein originelles »Therapiekonzept«.

Der fachliche Hintergrund bleibt dabei flexibel. Nicht selten waren jene Gurus in »früheren Leben« (was manchmal durchaus wörtlich verstanden werden soll) nicht etwa in der Psychologie tätig, sondern auch in Branchen wie Schauspiel, Handel oder Seelsorge. Oft führen sie ein »Schlüsselerlebnis« an, etwa eine unheilbare Krankheit, aus der sie sich herausgedacht hätten wie einst Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zog. Nun wollten sie ihr heilvolles Wissen fast selbstlos mit anderen teilen.

Wie alle Ideologien hat auch diese Feindbilder. Der pessimistische Mensch zum Beispiel, der gelegentlich mit »Verschwörungstheorien« in Verbindung gebracht wird. Oder der intellektuelle Mensch, dessen zweifelnder Verstand das Positive abwehrt. Oder schlicht der normale, auch einmal unglückliche Mensch - also all jene, die nicht an das Positive glauben. Gerne sind es auch Frauen, speziell Mütter, die unsere Kindheit versaut haben sollen: Die »Emanzipation« habe sie aus der Bahn geworfen, ihnen Menstruationsschmerzen gemacht und die Orgasmen geraubt. Frustriert flüchten sie in den Schönheitswahn und mäkeln an ihren Männern herum. Das entmännlicht diese und traumatisiert zugleich die Kinder! In dieser Logik ist es dann am Ende nur folgerichtig, dass Frauen vergewaltigt werden. Auch diese Wirklichkeit haben sie sich selbst geschaffen!

Das ist nicht einmal übertrieben. Es gibt tatsächlich derartige Gurus, die häusliche Gewalt durch eine Bearbeitung des Opfers - und nicht des Täters - zu heilen versprechen. Die Wurzeln dieser Gewaltsituationen lägen nämlich in ihren negativen Gedanken dem Gatten gegenüber, »analysierte« etwa der 2015 verstorbene deutsche Motivationstrainer Erhard F. Freitag. Dächte die Frau nur ein bisschen positiver, veränderte sie auch ihren übergriffigen Mann: Problem gelöst! Auch Menschen, die in Kriegsgebieten leben, wollen diese Erfahrung nach solchen »Theorien« machen, auch wenn sie das nicht wissen und deshalb Beratung brauchen - meinen Persönlichkeitstrainer wie Robert Betz.

Aber auch in weniger drastischen Fällen ist das Ziel der »Therapien« klar. Es geht um Normalisierung, um die Schaffung funktionierender, leistungsorientierter und bei aller autosuggestiven Aktivierung im Grunde doch höchst passiver Menschen, die »nützlich« sind für sich und die Gesellschaft. Will der Sohn Künstler statt Kaufmann werden, heilt ihn die Hypnose. Spezielle Fragetechniken und suggestive Wiederholungen können suboptimale Angestellte »umprogrammieren«. Auffällig oft ist in diesen Kontexten tatsächlich vom »Programmieren« die Rede - der Kalifornismus lässt schön grüßen.

Manche Gurus sind nur gewitzte Scharlatane. Andere hingegen haben sich wirklich manipulative Techniken angeeignet, die - wenn die Besprochenen willig und gläubig sind - durchaus Resultate erzeugen. Die Gurus greifen zu Werkzeugen, die der Theoretiker Michel Foucault kritisch als »Technologien des Selbst« beschreibt. Foucault unterscheidet dabei zwei komplementäre Instrumentarien, nämlich »Melete« und »Gymnasia«, was im Altgriechischen für die rituelle Übung erstens der Gedanken und zweitens des Körpers steht. Demnach ist Positives Denken eine Praktik von Melete, die »gymnastisch« ergänzbar ist. Yoga oder das tägliche »Work-out« können insofern die körperliche Seite mentaler Selbstabrichtung bilden, denn auch davon verspricht man sich ja bessere Gefühle. Ganz nach dem alten Motto: In einem positiven Körper wohnt ein positiver Geist.

Für viele geht die permanente Selbststimulierung und Selbstoptimierung auf Dauer nicht gut, selbst wenn sie anfangs begeistert sein mögen. Durch den andauernden Selbstzwang zum Positiven werden negative Gefühle überblendet und betäubt. So kann die Glückssuche schnell in einen Teufelskreis der Selbstbestrafung und Selbstauslaugung bis zum Burn-out münden, der dann wieder allein selbst zu verantworten ist. Wirf eine Glückspille ein, gehe zum Motivationstraining und rede dir ein, die Welt sei gut. Ist sie es aber nicht, bist du falsch gepolt und nutzlos - wer könnte schon längerfristig mit derartigen Gedanken leben?

Solidarität, Frieden, Gerechtigkeit? Wir müssen uns die Welt nur genau so schön reden, wie wir auch unsere Körper kultivieren, dann wird alles gut. Dir geht es aber eher schlecht - mit Hartz IV, mit einem Billigjob, mit unbezahlten Rechnungen? Es liegt in erster wie in letzter Konsequenz an Dir selbst. Denke positiv oder gehe unter. Nicht selten in dieser Reihenfolge.

Sarah Heinemann studierte Sprechwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nun promoviert sie dort über die Rhetorik des Positiven Denkens. Sie ist Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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