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Traum vom Anderswerden

»Das Versprechen der Kraniche«: Irmtraud Gutschke hat ein sehr persönliches Buch über Tschingis Aitmatow verfasst

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Literatur lebt nicht nur von den Fehlern der Welt, wie Peter Hacks richtig bemerkte, auch von Erlebnissen, nach denen man altvertraute Dinge anders ansieht. Tschingis Aitmatow, der vor zehn Jahren - am 10. Juni 2008 - starb, nahm seine Kindheit überallhin mit. Die traditionelle Dorfgemeinschaft traf auf den Stalinismus, der seinen Vater tötete. Traum traf Trauma. Es waren die Mythen und Legenden Kirgistans, die ihn retteten.

Seine Heimat lebte in ihm, er trug sie im Kopf hinaus in die Fremde, die schon in Russland begann und auch nicht endete, als er im Alter Botschafter Kirgistans in Frankreich und den Benelux-Ländern wurde. Als der »FAZ«-Reporter Michael Martens ihn 2005 in Brüssel besucht, trifft er auf einen unendlich müden alten Mann, einen »aufgehörten Schriftsteller«, wie es Tucholsky nannte, der wenig Lust hat, sich zu unterhalten. Erst am Ende des Gesprächs, als ihm sein Gast ein Geschenk überreicht, fährt der Blitz jähen Unbehagens in ihn, plötzlich hellwach, entschuldigt er sich - und eine Stunde später erscheint Aitmatows Fahrer verschwitzt im Hotelzimmer des Journalisten und übergibt diesem eine riesige Schachtel belgischer Pralinen, die er, der Fahrer, eiligst besorgen musste. Der kirgisische Junge in Aitmatow wusste, dass er sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte: Nicht der Gast schenkt, sondern er wird beschenkt.

Aitmatow hat über die Ermordung seines Vaters, der zum Volksfeind erklärt worden war, in seinen autobiografischen Notizen von 1971 nur einen dürren Faktensatz zu vermelden: »Im Jahre 1937 wurde mein Vater, Parteiarbeiter und Hörer am Moskauer Institut der Roten Professur, von den Repressalien betroffen.« Nach zwei Jahren in Moskau kehrt die Mutter mit den Kindern in den Ail Scheker in den kirgisischen Bergen zurück: ein Absturz in jeder Hinsicht, die Frau eines Verräters, die vielleicht nur überlebt hat, weil der Vater die Familie im letzten Moment vor seiner Verhaftung in den Zug gesetzt hatte. Aber ein Zurück in die Heimat gibt es für Aitmatow nicht, die Unschuld, das blinde Vertrauen in die neue Zeit - vorbei. Die Verwandten nehmen die Mutter und die vier Kinder auf, versorgen sie - die rettende Dorfgemeinschaft wird zum Urerlebnis Aitmatows.

All die Geschichten der Großmutter, die Treue der Schwester des Vaters, Aitmatows Tante, ihr Sinn für Wahrheit. Nein, für die Familie sind sie keine Verräterkinder: »Irgendwie begriff diese Frau, obgleich Analphabetin, dass alles Lüge war, dass dies gar nicht sein konnte.«

Aitmatow war ein Meister darin, diesen Aufeinanderprall von Welten in bildmächtige Symbole zu bringen. Die Heimat und die Fremde, das Land und die Stadt, Kirgistan und Russland, Treue und Verrat - all das findet sich in einer anderen Begebenheit seiner vor Schweigen beredten Autobiografie.

Der neunjährige Tschingis, der in der Moskauer Schule fließend Russisch sprechen gelernt hatte, weigert sich, zurück im Ail, diese Sprache zu sprechen. Aber dann verendet ein wertvoller Zuchthengst, der soeben für viel Geld für die Kolchose angekauft worden war. Ein Fall fürs Amt. Der Kreistierarzt, ein Russe, kommt, um das Pferd zu obduzieren, den Schuldigen zu ermitteln. Die Hirten drängen den Jungen, ihnen zu dolmetschen, er weigert sich, bleibt stumm. Schließlich befiehlt ihm die Großmutter im Namen seines Vaters, mit dem Russen zu reden. Das allein hilft, er übersetzt.

Die Hirten erklären dem Veterinär, dass dieser Ort Uu-Sas heiße, »giftiges Gras«. Daran sei das Pferd gestorben. Und warum nur dieses und nicht die anderen?, fragt der zurück. Die einheimischen Pferde wüssten um die Ungenießbarkeit und rührten es nicht an, bekommt er zur Antwort. Aitmatows Sätze sind meist kurz, aber reichen bis an die Ursprünge der Erinnerung seines Volkes, ihrer Mythen und Legenden. Auch er selbst geht immer wieder an diesen Anfangspunkt zurück - das verbindet ihn mit seiner eigenen Kindheit -, um in der Verbindung von beidem einen neuen Anfang für sein Schreiben zu finden.

Was aber nun ist der biografische Ausgangspunkt in Irmtraud Gutschkes Annäherung an Tschingis Aitmatow? Sie schreibt keine umfängliche werkdeutende Monografie, sondern einen Bericht darüber, wie sie zu Aitmatow kam. Nicht zufällig lautet der Untertitel des Buches »Reisen in Aitmatows Welt«. Als Mensch und als Leserin, schließlich auch als Literaturredakteurin des »Neuen Deutschland« seit 1971. Es ist ihre eigene Bildungs- und Wandlungsgeschichte, die eng mit seinem Namen verknüpft ist.

Der Beginn ist genau datiert: An einem Herbstabend in Jena 1969 tritt Irmtraud Gutschke in der Dämmerung aus der Bibliothek des Slawistischen Instituts, in der sie Aitmatows Novelle »Djamila« auf Russisch gelesen hatte, immer noch ganz gefangen von der Magie der Sprache.

Und so hebt das Buch an: »Beinahe wäre ich unter ein Auto geraten. So mischte sich Aitmatow in mein Leben ein.« Es ist eine Schrecksekunde, ein Augenblick unerwarteten In-Gefahr-Seins und doch auch ein Augenblick der Entscheidung: »Und schon am sicheren Straßenrand fasste ich einen Entschluss: Ich würde meine Diplomarbeit über Tschingis Aitmatow schreiben.« Damit beginnt eine lange Reise, die bis heute für sie nicht aufgehört hat. 1977 erhält Gutschke das erste Mal die Erlaubnis, in Aitmatows Geburtsort nach Scheker zu fahren. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, Ausländer dürfen nicht einfach so ins Land reisen, schon gar nicht in abgelegene kirgisische Dörfer. Durch einen Journalistenaustausch gelingt es ihr, zuerst einmal bis Moskau und dann bis Frunse zu kommen. Doch das herrschende »paranoide Sicherheitsbedürfnis« machte jede freie Bewegung unmöglich: »Und selbst die schlecht bezahlte ›Deshurnaja‹, die ›Diensthabende‹ auf der jeweiligen Hoteletage, war eine Aufpasserin und durfte sich erhöht fühlen, wenn sie dich zurechtweisen durfte.«

Nun bekommt sie die Auskunft, das ganze Gebiet sei für Ausländer gesperrt. Nur wenn der Sekretär des Gebietsparteikomitees eine Sondererlaubnis erteile, hätte sie vielleicht eine Chance. Also passt sie den allmächtigen Provinzparteigott ab, als er am nächsten Morgen aus seiner Limousine steigt (dafür hat sie die Zustimmung der unteren Chargen bekommen): »Und so funktionierte es auch, mit einem mädchenhaften Augenaufschlag und trotzig-bittender Stimme. ›Reschim‹, sagte der Gebietssekretär, ohne dass sich seine verschlossen Miene aufgehellt hätte. (Wir werden das entscheiden oder lösen, es konnte beides bedeuten.) Sie würden mich zu finden wissen, ich müsse warten.« Und so bekommt sie tatsächlich die Erlaubnis, den Geburtsort Aitmatows zu besuchen.

Ein ganzer begleitender Tross von Jeeps setzt sich in Bewegung: Es ist ein offizieller Besuch geworden, immer mehr Würdenträger schließen sich unterwegs an. Und dann, nach einer Ewigkeitsfahrt über staubige Pisten: Stopp!, man ist da. »Was denn, genauso ein lang gestrecktes, staubiges Straßendorf, wie wir schon einige durchfahren hatten, das sollte Aitmatows Geburtstort sein?« Welche Entzauberung, welche Realsetzung des poetisch-hochgestimmten Beginnens! Sie ist die erste Ausländerin in Scheker.

Es sind Irmtraud Gutschkes sehr persönliche Wege zu Aitmatow, den sie schließlich auch persönlich kennenlernt, die diesem Buch seinen besonderen Charme geben: eine Spurensuche des Werks im eigenen Leben.

Aitmatows Leben ist ein doppeltes: im Kirgisischen wie im Russischen. Als der Krieg ausbricht, ist er vierzehn: »Da ich von allen Halbwüchsigen die beste Bildung hatte, machte man mich zum Sekretär des Dorfsowjets, ein anderer fand sich nicht für diese Arbeit.«

Als 1985 mit Gorbatschow, dem er ein enger Freund und Berater wird, die Perestroika beginnt, ist Aitmatow einer ihrer Vordenker. Der sozialistische Mensch bleibt eine Utopie, in der Realität herrschen moralische Verwilderung und Entwurzelung, die man zuerst benennen muss, um sie vielleicht einmal überwinden zu können. Solche ungeschönten Geschichten will er erzählen. Irmtraud Gutschke bescheinigt ihm eine tragische Auffassung vom Menschen. Dieser trägt in allen Gesellschaften einen gefährlichen Abgrund in sich - davon erzählen »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« und »Die Richtstatt«.

Der Autor Aitmatow ist beladen damit, auch ein Literaturfunktionär, ein Repräsentant sein zu müssen - am Ende machten sie ihn sogar zum Botschafter des neuen Staates Kirgistan. Unglücklicher kann ein Mensch kaum sein, dessen Kraftquell ebenso wie sein Schmerzgrund immer die sozialistische Sowjetunion gewesen war, an deren Reform er lange geglaubt hatte.

Irmtraud Gutschke: Das Versprechen der Kraniche. Reisen in Aitmatows Welt. Mitteldeutscher Verlag, 200 S., geb., 16 €.

Veranstaltungen mit der Autorin: 10. Juni, 17 Uhr, Deutsch-Russisches Kulturinstitut, Zittauer Straße 29, 01099 Dresden

11. Juni, 18 Uhr, Puschkino, Kardinal-Albrecht-Straße 6, 06108 Halle

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