Abgestorbene Algen im freien Fall
Bei der Eisschmelze freigesetzte Gipskristalle befördern große Mengen an Nährstoffen in die Tiefe. Von Ingrid Wenzl
Manch einer kennt sie von der Nordsee: Die etwa zwei Millimeter großen Schaumalgen Phaeocystis werden dort während ihrer Blütezeit oft als klebriger, stinkender Schaum an den Strand gespült. In der Arktis schweben sie nach ihrem Tod gewöhnlich in Zeitlupe gen Meeresgrund, denn anders als etwa Kieselalgen sind sie sehr leicht. Dieses langsame Tempo erlaubt es Bakterien, sie bereits auf dem Weg in die Tiefe fast vollständig zu zersetzen und damit Nitrat, Kohlendioxid und andere Stoffe wieder zurück in den Nährstoffkreislauf zu bringen.
Um so überraschter war die Meeresgeobiologin Jutta Wollenburg vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar- und Meeresforschung, als sie bei einer Expedition im Frühjahr 2015 vor Spitzbergen erstmals beobachtete, wie Flocken abgestorbener Schaumalgen binnen weniger Stunden »wie in einem Fahrstuhl ohne Zwischenhalt« bis in 2100 Meter Tiefe sanken. »Bei der Analyse entnommener Proben zeigte sich, dass die Hälfte der Algenmasse aus feinen, winzig kleinen Gipsnadeln bestand«, erklärt die Erstautorin der jüngst im Fachjournal »Scientific Reports« veröffentlichten Studie (DOI: 10.1038/ s41598-018-26016-0). Die Gipskristalle bilden sich bei Temperaturen unter minus 6,5 Grad Celsius während des Ausfrierens von Salz in den Poren des Meereises. Erst bei der Eisschmelze werden sie wieder frei. Fällt diese mit der Algenblüte zusammen, verfangen sie sich in den abgestorbenen Algen und ziehen diese mit ihrem Gewicht mit sich nach unten. »Dieser Mechanismus war bislang völlig unbekannt«, so Wollenburg.
Durch die aktuelle Erwärmung des Erdklimas erlebt die Arktis immer kürzere Winter. Anders als noch vor 30 Jahren, als ein Großteil des dortigen Meereises drei Jahre oder älter war, sind inzwischen 70 Prozent des Meereises nur noch einjährig: Es bildet sich im Herbst und schmilzt im Frühjahr wieder. So blühen die Algen immer früher und häufiger bereits unter dem dünnen, brüchigen und damit lichtdurchlässigeren Eis. Besonders Phaeocystis kommt schon mit wenig Licht aus und gedeiht sogar unter schneebedecktem Eis. »Künftig könnten also beide Phänomene häufiger zusammenkommen - die Algenblüten und das Freisetzen von Gipsnadeln«, resümiert die ebenfalls am AWI forschende Mitautorin der Studie Ilka Peeken.
Die arktische Tiefsee gilt als das nährstoffärmste Meer weltweit. Das wird sich nach Ansicht von Wollenburg nun ändern. Überhaupt könnte die jüngste Entdeckung für die Fauna des »Zwischenstockwerks« und die Tiefseegemeinschaft einen gravierenden Wandel bedeuten. Derzeit ziehen Krebse und Fische im Frühling von der norwegischen oder grönländischen See weiter nach Norden, um sich die Frühjahrs- und Sommerblüte der Algen einzuverleiben. Die norwegische Fischerei sitzt schon in den Startlöchern, um ihre Fanggebiete auszuweiten. »Wenn nun aber oben kein Nährstoffangebot mehr besteht, weil mit den Algen die gesamte Biomasse nach unten sinkt, gibt es auch keine Sommerblüte mehr und damit keine Nahrung für Fische und Krebse«, gibt die Wissenschaftlerin zu bedenken. Die Tiefseegemeinschaft ihrerseits ist eng mit dem Nahrungsfluss gekoppelt. Nach Einschätzung von Wollenburg vertragen die dort lebenden Bodenorganismen keine so hohen Einträge organischen Materials. Es werde also sowohl in mittlerer Tiefe als auch in der Tiefsee eine eklatante Artenverschiebung geben.
Die Entdeckung ist jedoch nicht nur von biologischer Relevanz: Mit der schnellabsinkenden Biomasse gelangt mehr Kohlenstoff auf den Meeresgrund. Einmal in der Tiefsee ist das Treibhausgas der Atmosphäre im Schnitt für 1000 Jahre entzogen. Noch ist nicht erwiesen, dass auch am Rande der Antarktis Gipsnadeln große Mengen Algen in die Tiefe befördern. Bereits im Jahre 1996 beobachtete eine Gruppe US-amerikanischer Forscher um den Ozeanographen Giacomo DiTulio allerdings das schnelle Absinken von Phaeocytis antarctica im antarktischen Rossmeer und rätselte über die Ursache des Phänomens. Es liegt nahe, dass auch dort zeitgleich freigesetzte Gipsnadeln der Grund dafür waren. »Sollte dies der Fall sein, könnte der Mechanismus durchaus klimarelevant sein. Denn die Antarktis hat einen sehr großen Randbereich«, erklärt Wollenburg.
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