Farmer wider Willen
Barbara Thalheim
Im März 1936 saßen zwei deutsche Männer in Perpignans ältestem Quartier »Saint-Jacques« in einem typisch südfranzösischen Familienrestaurant beim Abendessen. Sie hatten sich viel zu erzählen. Der eine, 28 Jahre, Kommunist, Mitarbeiter der Tageszeitung der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP, eine Abspaltung der KPD, war nach Hitlers Machtergreifung 1933 aus Breslau vor seiner Verhaftung geflohen. Der andere, 58 Jahre, Sattlermeister, Sozialdemokrat, hatte die beschwerliche Bahnreise von Leipzig nach Perpignan auf sich genommen, um seinen im Exil lebenden Sohn wiederzusehen. Elf Jahre später wurden die beiden mein Vater und Großvater.
Es ist Mittwoch, der 6. Juni 2018. Mit dem Exiltagebuch meines Vaters laufe ich - 82 Jahre nach dem Vater-Sohn-Treffen - durch Perpignan. Hier muss es gewesen sein, in der Rue des Gitans war das kleine Familienrestaurant. Ein schmales Gässchen, wo, wie mein Vater schreibt, die Bewohner sich Hühner in den Kellern halten und Wäscheleinen von Haus zu Haus gespannt sind, wo man sich gegenseitig in die Fenster guckt und die schmalen Häuser alles ausplaudern, was in ihnen geschieht.
Meine Fragen sind nicht willkommen bei den Anwohnern. Nein, das Restaurant »Chez Jaqueline« kennt hier keiner. Ich vermute, dass der Name ein Hinweis darauf gewesen sein kann, dass seine Betreiberin Feministin war. Im multiethnisch-kulturellen Quartier »Saint Jacques« ein Restaurant »Chez Jacqueline« - das ist kein Zufall. Auf dem Trottoir sitzt eine Frau, die Körbe flicht und mit einem alten Hörrohr hantiert. Sie bittet mich, meine Frage zu wiederholen. »Ooch, ›Chez Jacqueline‹, das ist lange her, zwei Häuser weiter war das, ist ein Obstlager heute.« - »Das war das Restaurant«, sage ich, »in dem mein Vater und Großvater gegessen haben 1936. Sehr gut übrigens.« Sie fragt verschmitzt, was sie gegessen hätten, und ich lese ihr den ins Tagebuch eingeklebten Zettel der Rechnung mit dem Menü vor. »Und Sie durften nicht mitkommen?«, fragt die Alte. Humor oder Alzheimer? Ich sage, dass ich noch nicht auf der Welt war. Darauf die Korbflechterin mit dem Hörrohr: »Dann waren die Männer ja gar nicht Ihr Vater und Großvater.« Ich bin platt ob dieser Logik und brauche erst einmal einen Coup de Rouge.
Perpignan, die - statistisch gesehen - heißeste Stadt Frankreichs, gilt als Hauptstadt des Französischen Kataloniens mit 120 000 Einwohnern im Département Pyrénées-Orientales, Region: Okzitanien, wozu Montpellier, Toulouse und sogar der Zwergstaat Andorra gezählt werden. Ich frage Martha im Nebenzimmer, die quirlige Chefin der »Mas de la Coûme«, einer internationalen Jugendherberge, 800 Meter hoch gelegen in den Pyrenäen: »Region Okzitanien, stimmt das?« Sie berichtigt mich streng: »Region Katalonien! Wir sind hier in Katalonien!« Okay, das war mein Fettnapf! 30 Kilometer nördlich verläuft die spanische Grenze. Natürlich ist mir gestern in Perpignan aufgefallen, dass die von jedem zweiten Balkon und aus vielen Fenstern wehenden rot-gelben Fahnen Kataloniens auch Statements sind.
Mein Vater beschreibt in seinem Tagebuch seinen Aufenthalt in den 30er Jahren auf der durch englische Quäker erworbenen Farm »Mas de la Coûme« in einem recht unwirtlichen Seitental des Pyrenäen-Gebirges, die sechs politischen Flüchtlingen zum Überleben in der Emigration zur Verfügung gestellt wurde. Seinem Vater wollte mein Vater die Gegend zeigen, in die ihn sein Schicksal als »Farmer wider Willen« geführt hatte, nachdem er bereits anderthalb Jahre in Algier zu überleben versucht hatte. Die beiden Männer fuhren - noch war Südfrankreich nicht besetzt - über Elna nach Colliure an die Sardinenbucht, zum letzten Hafen Frankreichs vor der spanischen Grenze, Port-Vendres, den Ludwig XIV. den Spaniern entrissen hatte, um seine Kriegsschiffe zu parken, nach Banyuls, dem wohl malerischsten Dörfchen an der Mittelmeerküste der Ostpyrenäen, dem Geburtsort des großen Bildhauers, Malers, Grafikers Aristide Maillol.
Hier wohnt auch der Flamenco-Gitarrist Pedro Soler, der an diesem Freitag 80 Jahre alt geworden ist und am Vorabend mit befreundeten Musikern in Palau-del-Vidre ein Konzert gab. Wenn Pedro, der virtuose Flamenco-Mann, und Jean Pacalet, der virtuose Akkordeon-Mann, früher auf der Mas Joaquin in Banyuls unter dem Radau zirpwütiger Mittelmeer-Zikaden über Improvisation und freie Musik stritten, mussten Madeleine und ich manchmal lachen. Gute Musik wäre das, was dabei herauskäme, wenn man über das Leben nachzudenken in der Lage ist, sagte Jean Pacalet. Allerdings hatte er bei dieser Aussage bereits zwei Flaschen des Banyulser Weins allein getrunken. Er konnte betrunken ohnehin besser spielen als streiten. Am 7. Juli ist er bereits sieben Jahre tot.
Unter www.lacoume.org (Button: Präsentation) befindet sich ein Hinweis auf das bei L’Harmattan erschienene Buch über meinen Vater mit seinen Tagebuchaufzeichnungen aus seiner Zeit als Farmer in den französischen Pyrenäen.
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