Keine Musik für die Massen
Die Popgruppe Depeche Mode war unter Jugendlichen in der DDR überaus populär. Ein Buch gibt Einblick in die Fankultur
Die Popmusik spielt heute nicht mehr die identitätsstiftende Rolle, die sie noch vor zwanzig Jahren hatte. Ein Fantum, das sich intensiv und über Jahre an einer überlebensgroßen Star-Persona im klassischen Sinne abarbeitet, ist die Ausnahme geworden. Und die Möglichkeit, jederzeit für wenig bis gar kein Geld auf fast die gesamte Geschichte und Gegenwart der Popmusik zugreifen zu können, hat auch zu seiner Entwertung beigetragen - die ja, nebenbei bemerkt, auch etwas Erleichterndes haben kann. Das Fantum wird weniger obsessiv.
Das Buch »Behind the Wall« von Sascha Lange und Dennis Burmeister gibt - am Beispiel der Popgruppe Depeche Mode - einen Einblick in die Fankultur der DDR. Die beiden Autoren haben Material über Depeche-Mode-Fanclubs, Partys und Tauschbörsen zusammengetragen, die sich in den Achtzigern gebildet hatten. Der reich bebilderte Band erinnert an eine Ära, in der Platten und Tapes eine Aura hatten, die ein Stream in der Form nicht haben kann. Und diese Aura speiste sich eben nicht zuerst aus verabsolutierten Eigenschaften, die Vinylsammler heute anführen, um ihr anachronistisches Treiben zu rechtfertigen (»die Haptik« und so weiter), sondern aus einer Knappheit der Tonträger, die den Fetischcharakter der begehrten Objekte befeuerte.
Die Schwierigkeiten, mit denen Jugendliche in der DDR beim Heranschaffen von Schallplatten, Tapes, Zeitschriften und Band-T-Shirts zu kämpfen hatten, überstiegen die der BRD-Jugend bei Weitem. Lange und Burmeister beschreiben das Fan-Dasein im Realsozialismus als gleichermaßen leidenschaftlich wie zermürbend. »Mindestens 120 Ost-Mark musste man für eine Westplatte hinlegen, das war in etwa das Monatsgehalt eine Lehrlings.« Erschwinglicher waren Lizenzpressungen aus Ungarn und vor allem aus Jugoslawien. Knapp waren auch die Tickets für das einzige Konzert, das Depeche Mode je in der DDR spielten, am 7. März 1988 in der Berliner Werner- Seelenbinder-Halle (die nur wenige Jahre später, 1992, abgerissen wurde). Die Ostberliner FDJ-Führung verteilte »die meisten der 6481 Tickets über die FDJ-Jugendorganisationen an den Osterberliner Schulen - jeweils zwei Eintrittskarten pro Klasse«. Die Qualen, die mit dieser Vergabepolitik einhergingen, kann man sich vorstellen.
Aber »Behind the Wall« erinnert auch an inzwischen weitgehend vergessene popkulturelle Errungenschaften wie die Radiosendung »Duett - Musik für den Rekorder« (DT64), die komplette Alben von westlichen Künstlern spielte, damit die Hörer sie mitschneiden konnten - in der einen Woche wurde die A-Seite, in der kommenden die B-Seite abgespielt. Und dass es mit »Electronics« eine eigene Sendung für elektronische Musik gab, ist heute ebenfalls nicht mehr präsent. Den größten Teil der Arbeit aber mussten die Fans selbst erledigen. Die dokumentierten Konzertberichte, Tauschangebote und Party-Einladungen, die unter den Mitgliedern Dutzender Depeche-Mode-Fanclubs kursierten, zeugen von einem maximal gut organisierten Fandom.
»Behind the Wall« fährt, wie schon Langes und Burmeisters Depeche-Mode-Buch »Monument«, eine beeindruckende Masse an Material auf - und betreibt Popkulturgeschichtsschreibung als durch und durch positivistisches Unternehmen. Man hätte schon gerne etwas darüber gelesen, warum ausgerechnet Depeche Mode eine so große Resonanz unter den Jugendlichen der DDR gefunden haben, gerne auch etwas Spekulatives. Oder ob eine Popband hier schlicht als potenziell klassen- und systemübergreifendes Phänomen fungiert hat, weil zum Beispiel ein Songtext wie »There was a time/ When all on my mind was love/ Now I find/ That most of the time/ Love’s not enough/In itself« - und dazu dann unterkühlte Synthesizerklänge - für ein adoleszentes Publikum potenziell überall gleich funktioniert.
Aber man muss ein Buch auch nicht an einem Anspruch messen, den es selbst nicht formuliert. Über die DDR erfährt man in »Behind the Wall« alles in allem eher wenig. Viel hingegen erfährt man über die Leidenschaften und organisatorischen Fähigkeiten der DDR-Jugend, die unter einer Regierung freigesetzt wurden, die zu vernagelt war, die »Music for the Masses« einfach laufen zu lassen.
Dennis Burmeister/Sascha Lange: Behind the Wall - Depeche-Mode-Fankultur in der DDR. Ventil-Verlag, 240 S., brosch., 30 €.
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