Dunkle Geheimnisse überall

Haruki Murakami: »Die Ermordung des Commendatore«

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Haruki Murakami ist ein Phänomen. Wie kaum ein anderer Schriftsteller verknüpft der in der Nähe von Tokio lebende Autor spielerisch Popkultur und japanische Erzähltraditionen und fertigt daraus eine ungemein süffige zeitgenössische Prosa. Die hat eine ganz eigenwillige psychologische Tiefe und erzeugt einen unglaublichen Sog, der den Leser in die Geschichten regelrecht hineinzieht. Haruki Murakami zu lesen ist immer ein wenig so, als würde man an der Handlung selbst Anteil haben.

Murakamis Helden sind zumeist Mitte dreißig, arbeiten oft im Kulturbetrieb, zweifeln heftig an sich selbst und durchleben eine Phase der beruflichen, künstlerischen und oft auch der sexuellen Neuorientierung. So auch in seinem neuen fast 1000 Seiten langen Roman »Die Ermordung des Commendatore«, der in zwei Bänden kurz hintereinander erschienen ist.

Auch wenn der weltweit gefeierte Erfolgsautor im Januar 2019 siebzig wird, stellt er wieder einen Thirtysomething ins Zentrum seiner Erzählung. Der namenlose Maler hat sich gerade von seiner Frau getrennt, unternimmt eine mehrwöchige Fahrt durchs ländliche Japan und richtet sich schließlich im frei gewordenen Domizil eines inzwischen im Altersheim lebenden berühmten Malers ein, mit dessen Sohn er befreundet ist. So weit wäre das alles nicht mehr als ein gängiges Gesellschaftsdrama über einen biographischen Bruch, der mit einer privaten Trennung und Suche nach beruflicher Orientierung verbunden ist. Das könnte auch in jedem anderen Land der Welt angesiedelt sein. Aber bei Haruki Murakami wird daraus eine abgründige Geistergeschichte, die es in sich hat.

Denn auf dem Dachboden des Hauses findet der Maler ein unbekanntes Bild des alten Meisters, das eine Szene aus Mozarts Oper Don Giovanni im Stil eines japanischen Gemäldes zeigt: die titelgebende »Ermordung des Commendatore«.

Nicht nur dass er daraufhin nachts bald ein seltsames Glockengeräusch hört, das aus einer zugemauerten Grube im Wald zu kommen scheint, plötzlich sitzt auch der Commendatore des Bildes in seinem Atelier und beginnt mit ihm zu diskutieren. Außerdem ist da noch ein geheimnisvoller Nachbar, der den Maler bittet, ihn zu porträtieren. Und ein Mädchen, das ebenfalls in dem Tal lebt, beginnt sich mit ihm anzufreunden.

Haruki Murakami erzählt dieses komplexe Kammerspiel mit Elementen des magischen Realismus im gewohnt lakonischen und stilistisch treffsicheren Tonfall. Wie in einem großen opulenten Gemälde, das langsam die Leinwand füllt, breitet er seinen Roman Stück für Stück aus und bringt sein Personal in Stellung.

Bald wird klar, dass hinter dem unbekannten Gemälde des Meisters eine schreckliche Geschichte steckt, die bis in die Nazizeit zurückreicht. Aber auch der geheimnisvolle Nachbar verbirgt so einiges, was erst im Lauf der Zeit ans Licht kommt. Die Kindheit ebenso wie die jüngste Vergangenheit des Malers stecken auch voller dunkler Geheimnisse. So durchschnittlich Murakamis Figuren mit ihren banalen Alltagssorgen im ersten Moment wirken, werden sie doch stets von inneren Dämonen angetrieben, die der Autor auf geniale Weise ins Spiel bringt. Kaleidoskopartig verknüpft Haruki Murakami so die unterschiedlichen Erzählstränge, die im Haus des namenlosen Malers zusammenkommen. Dort werden im Atelier Mozarts Opern auf alten Platten abgespielt und außergewöhnliche Porträts entworfen.

In Haruki Murakamis Roman geht es, wie immer wieder in seinem Werk, darum, sich auf das Unfassbare, auf das Nicht-Rationale einzulassen. Der erfolgreiche Porträtmaler beginnt plötzlich Bilder zu malen, die sich von seinem bisher eher eintönigen Handwerk, das er freilich virtuos beherrscht, entfernen.

Was kann Kunst? Was kann ein Bild erfassen und ausdrücken, was je nach Betrachter wieder ganz unterschiedlich wirken mag? Diesen Fragen geht der Roman nach, natürlich ohne eindeutige oder platte Antworten darauf zu geben. Vielmehr erforscht Murakami das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Umwelt. Das Kunstwerk hat bei ihm vor allem eine soziale Funktion und entfaltet darüber seine Wirkung.

Im Erzähluniversum dieses Schriftstellers kommen dann noch tiefsitzende Albträume und wiedergängerische Figuren im Stile der japanischen Geistergeschichten dazu und bilden mit dem popkulturellen Rahmen eine faszinierende literarische Mischung.

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Band I & II, 480/496 S., geb., je 26 €.

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