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- Diskriminierung von Flüchtlingen
O altes Deutschland
Lorenz Gösta Beutin kritisiert das kalte Klima der Geschichtsvergessenheit
Wer heute in Deutschland und Europa Grenzen, Mauern und Obergrenzen für Menschen fordert, ist nicht weiter als ein geschichtsvergessener Tropf. Gerade Deutschland war und ist historisch ein Land, dessen Bewohner immer auf die offenen Grenzen anderer Kontinente und Länder angewiesen waren. Kriege, Hungersnöte, politische und religiöse Verfolgung, die Suche nach sozialem Aufstieg und Wohlstand ließen in den letzten Jahrhunderten Millionen die deutschsprachigen Gebiete Europas verlassen.
Jeder mit einem deutschen Pass in der Tasche kann heute die ganze Welt bereisen, spätestens seitdem Deutschland nicht mehr von einer grauen, hohen Betonmauer, Stacheldraht und Selbstschussanlagen durchtrennt ist. Die Nachfahren und Landsleute einstiger »Wirtschaftsflüchtlinge« sollten sich darum schämen, wenn sie heute, da es ihnen besser geht, als noch ihren Vorfahren, Neuankömmlinge aus Bürgerkriegsländern und Armutsnationen die kalte Schulter zu zeigen. Und ihnen, im Warmen sitzend, die Tür vor der Nase zuschlagen wollen.
Fast vergessen ist die Auswanderungswelle Mitte des 19. Jahrhunderts. Nicht mal 200 Jahre ist es her, dass unsere Vorfahren mit Hass und Ablehnung überschüttet wurden. Der »Oldenburgische Volksfreund« druckte 1850 einen Leserbrief ab, der sich wie ein BILD-Kommentar oder Facebook-Hasspost liest. Die nach der blutigen Niederschlagung der Märzrevolution 1848 und anderer Aufstände gegen Fürsten und Ausbeutung im Deutschen Bund geflohenen Männer und Frauen seien »nicht zu verdauen«. Die Deutschen »überschwemmen uns alle Städte, betteln, lamentiren, kritisiren, bramarbasiren, daß es geradezu zum Ekel wird«.
Das »Wisconsin Banner«, wichtigste Tageszeitung im US-Bundesstaat, ging noch weiter. Die geflüchteten Deutschen seien alle »zu faul«. »Bankerotte Kaufleute, Advocaten ohne Praxis, entsetzte Staatsdiener, Handwerker ohne Kunden, versoffene Arbeiter«, von denen »sich solches auch nicht anders erwarten läßt.« Erinnert wird an die Angst vor der Cholera, »eine andere Pest droht über uns hereinzubrechen«.
Das Mittelmeer von heute war den Fremdenfeinden von damals das zwischen US-Ostküste und Wisconsin gelegene Appalachen-Gebirge, »wir gedachten immer die blauen Kuppen der Alleghany's würden uns beschirmen vor einer Fluth«. Unverständnis heute wie damals über die Regierung, dass »wer an die Pforten des weißen Hauses klopft, dem wird aufgethan werden«. Seehofer, Gauland, Pegida und andere Nationalisten lassen grüßen.
Dass niemand freiwillig Haus und Hof verlässt, daran erinnerte auf der anderen Seite des Ozeans der Arbeiterdichter Heinrich Schacht. Den »Achtundvierzigern« und ihrer Not, ihrem gefährlichen Weg über den Atlantik, widmete Schacht 1855 das Gedicht »Die deutschen Auswanderer«.
Ein stolzes Schiff streicht einsam durch die Wellen,
Es führt uns uns're deutschen Brüder fort!
Die Flagge weht, die weißen Segel schwellen,
Amerika ist der Bestimmungsort.
Auf dem Verdecke stehen,
noch einmal anzusehen,
das Vaterland, das heimatliche Grün,
Mann, Weib und Kind, eh' sie von dannen ziehen.
Dort zieh'n sie hin, wer wagt es, noch zu fragen
Warum verlassen sie ihr Vaterland?
O, altes Deutschland, kannst du es ertragen,
daß deine Völker werden so verbannt?
Schaut her. Ihr Volksbeglücker,
schaut her, Ihr Unterdrücker,
seht eure besten Arbeitskräfte flieh'n,
seht, wie sie über's große Weltmeer zieh'n.
Wir stehen hier am heimatlichen Strande
und blicken unsern deutschen Brüdern nach.
Nicht Hochmuth treibt sie aus dem Vaterlande,
Nein, Nahrungslosigkeit und Noth und Schmach.
Was hier nicht war zu finden,
wollen sie sich dort begründen;
Sie segeln von dem deutschen Boden ab
und suchen in Amerika ein Grab.
Dort zieh'n sie hin auf wilden Meereswogen,
arm kommen sie im fernen Welttheil an,
und unter'm fremden, weiten Himmelsbogen
erwartet sie ein neues Schicksal dann:
Elend, Armuth und Kummer
wiegt sie gar oft in Schlummer.
O altes Deutschland, kannst du ohne Grau'n
die Flucht der armen Landeskinder schau'n.
Heute sind über 68 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte sind Kinder. Solidarität ist und bleibt die Zärtlichkeit der Völker. Alles andere ist Barbarei.
Der Autor ist Klima- und Energiepolitiker der LINKEN im Bundestag und studierter Historiker.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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