Starke Opposition

Die Türkei steht vor der Entscheidung: mangelhafte Demokratie oder vollständige Autokratie. Um letzteres zu verhindern, hat sich ein Teil der Erdogan-Gegner verbündet

  • Ismail Küpeli
  • Lesedauer: 4 Min.

Bereits die am am 20. April 2018 verkündete Entscheidung des Regierungslagers, die - anders als zuvor gleichzeitig stattfindenden - Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um eineinhalb Jahre vorzuziehen, diente dazu, die Opposition zu überraschen und unvorbereitet zu treffen. Denn bis dahin hatten sowohl Erdoğan als auch andere führende AKP-Politiker immer wieder behauptet, dass vorgezogene Wahlen nicht zur Debatte stünden - um dann eine plötzliche Kehrtwende zu vollziehen. Dieser Überrumpelungsversuch des Regierungslagers ist sichtbar missglückt: Die Oppositionsparteien waren auf Manöver der AKP vorbereitet.

Weil die gesamte Opposition im Vergleich zu den letzten Jahren politisch geschickter handelt und die Unzufriedenheit mit der AKP-Regierung aufgrund von politischer Instabilität und Wirtschaftskrise wächst, hätte die Opposition bei den kommenden Wahlen eine reelle Chance, den Machtwechsel herbeizuführen. Allerdings setzen Erdoğan und seine Regierung nicht nur den von ihnen kontrollierten Staatsapparat, sondern auch die staatlichen und privaten, aber regierungsnahen Medien im Wahlkampf ein. Unabhängige oder oppositionelle Medien existieren kaum noch.

Bei der Präsidentschaftswahl gibt es vier relevante Kandidaten: der bisherige Staatspräsident und AKP-Vorsitzende Recep Tayyip Erdoğan, der CHP-Abgeordnete Muharrem İnce, Meral Akşener, die Parteivorsitzende der IYI-Partei, und Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Vorsitzende der HDP. Erdoğan wird unterstützt durch eine Allianz der Regierungspartei AKP mit der rechten und nationalistischen MHP und steht für die Fortsetzung des bisherigen Kurses. Dieser bedeutet: Einführung des autokratischen Präsidialsystems, Repression gegenüber der Opposition, Krieg in den kurdischen Gebiete der Türkei und weiterhin Militärinterventionen in Nordsyrien und Nordirak. In den Umfragen liegt Erdoğan bei etwa 40 Prozent der Stimmen.

Der CHP-Kandidat Muharrem İnce ist gewissermaßen ein Kompromisskandidat aller Erdoğan-GegnerInnen, die sich selbst als die politische Mitte der Türkei definieren würden. İnce mobilisiert nicht nur die CHP-WählerInnen, sondern ist sowohl für rechte, konservative als auch für liberale und linke WählerInnen eine akzeptable und realistische Alternative zu Erdoğan. Darüber hinaus hat es İnce geschafft, eine andere Haltung als einschlägige CHP-PolitikerInnen gegenüber der linken HDP zu signalisieren und sich so deren Unterstützung bei der wahrscheinlichen Stichwahl im Juli 2018 zu sichern. Kemal Kılıçdaroğlu, der Parteivorsitzende der CHP, spielt im aktuellen Wahlkampf keine große Rolle, was angesichts der erfolglosen Politik der CHP in den letzten Jahren die Chancen von İnce eher verbessert. Für die erste Runde der Präsidentschaftswahl könnte İnce etwa 30 Prozent der Stimmen erhalten und würde damit in der Stichwahl gegen Erdoğan kandidieren.

Meral Akşener von der noch jungen IYI-Partei, einer Abspaltung der MHP, wurde in den ersten Wochen des Wahlkampfs als die Favoriten auf der Oppositionsseite gehandelt, gerade weil sie die gleichen Wählergruppen wie Erdoğan anspricht: rechts, nationalistisch, konservativ. Doch seit der Nominierung von Muharrem İnce wurde deutlich, dass sie im Gegenzug bei liberalen, linken und kurdischen WählerInnen keine großen Chancen hat. Sie verspricht, wie alle OppositionskandidatInnen, die Abkehr vom Präsidialsystem. Inzwischen liegt Akşener bei den Umfragen nur noch bei etwa 15 Prozent und würde damit nicht in die zweite Runde kommen.

Selahattin Demirtaş kandiert für die linke HDP aus dem Gefängnis heraus, wodurch für ihn die Möglichkeiten, Wahlkampf zu betreiben, faktisch nicht existierten. Allerdings war die HDP im aktuellen Wahlkampf sehr aktiv - trotz wiederholter Angriffe auf Veranstaltungen der Partei. Weil die übrigen KandidatInnen sich im rechten Spielfeld befinden, kann Demirtaş das gesamte linke Lager für sich gewinnen. Inhaltlich bilden Demirtaş und die HDP den deutlichsten Gegenpol zu Erdoğan und der AKP: So wird nicht nur das autokratische Präsidialsystem abgelehnt, sondern vielmehr soll in der Türkei eine echte pluralistische Demokratie aufgebaut werden, in der die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gleiche Rechte genießen. Demirtaş bleibt bei den Umfragen unter 15 Prozent der Stimmen und wird ebenfalls in der Stichwahl nicht kandidieren können.

Bei den ebenfalls am Sonntag stattfindenden Parlamentswahlen haben sich die Konstellationen der Parteien massiv verändert, nicht zuletzt durch die veränderten Wahlgesetze. So sind jetzt gemeinsame Wahllisten von mehreren Parteien möglich, wodurch die Zehn-Prozent-Wahlhürde effektiv umgegangen werden kann.

Die AKP bildet gemeinsam mit der MHP die »Volksallianz«-Liste, in der auch Kandidaten anderer rechter und nationalistischer Parteien kandidieren. Die »Volksallianz« liegt bei den Umfragen zwischen 45 und 50 Prozent der Stimmen. Die Oppositionsliste unter den Namen »Nationale Allianz« besteht wiederum aus CHP, IYI-Partei, der islamistischen Saadet-Partei und wird von anderen politischen Kräften unterstützt. Das Bündnis dürfte etwa 40 Prozent erhalten.

Die linke HDP kandidiert allein, weil sie aufgrund der Haltung der IYI-Partei an der Oppositionsliste nicht teilnehmen konnte, und muss selbstständig die Zehn-Prozent-Wahlhürde knacken. Laut den meisten Umfragen müsste ihr dies gelingen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.