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Zerstörte Hoffnungen

1968, 1989 und heute: Wenn Veränderung ausgeschlossen wird, bricht sich Unmut Bahn - unberechenbar in seinem Weg und seinen Folgen

  • Peter Richter
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor 50 Jahren marschierten sie in einer Reihe: Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Fritz Teufel, Andreas Baader, Joschka Fischer, Horst Mahler, Hans-Christian Ströbele und andere, die heute nicht mehr auf einen Nenner zu bringen sind. Im Establishment die einen, andere notorische Außenseiter, diese links, jene rechts außen - und mancher endete im terroristischen Untergrund. 1968 jedoch hatten sie alle zusammen kein geringeres Ziel als eine Revolution. Denn sie empfanden die Verhältnisse in ihrem Land als lähmend, als bleiern. Alles schien auf Dauer festgelegt, Neues war verdächtig, und Konrad Adenauers alter Wahlkampfspruch »Keine Experimente« galt als ewig gültig. »Versteinert«, nannte der Schriftsteller und 68er-Aktivist Peter Schneider das Leben in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Bundesrepublik. »Es herrschte ein unfrohes Klima, das über allem lag wie eine Glasglocke. Bloß nicht reden über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Verbrechen der Deutschen ... Hinzu kam das Gefühl eines verpassten Lebens, das die ältere Generation an uns weitergegeben hat.«

Man suchte nach einer Alternative, nach einer Perspektive jenseits des Bestehenden. Der Kapitalismus, der gerade ein »Wirtschaftswunder« hervorgebracht hatte, schien der jungen Generation nicht mehr das Maß aller Dinge. Daher der Blick auf den Sozialismus, in die Dritte Welt mit ihrer Befreiungsphilosophie. Gleichzeitig spürten die 68er die Beharrungskräfte des Alten, ahnten, dass das Bestehende alles Neue gnadenlos bekämpfen würde. Der Verfassungsschutz sah tatsächlich Vorboten einer »Weltrevolution«, und der Staat traf längst seine Vorkehrungen; die Notstandsgesetze standen vor der Verabschiedung.

Der Kapitalismus hatte gelernt, gerade aus seinen Niederlagen. Die russische Oktoberrevolution war nicht zu verhindern gewesen, und eine ähnliche Entwicklung im Herzen Europas, in Deutschland, konnte vielleicht nur durch eine faschistische Diktatur abgewendet werden. Adolf Hitler wurde von Wirtschaftsführern als selbsternannter Retter vor der »kommunistischen Gefahr« akzeptiert. Den Vormarsch des Sozialismus konnte er aber auch nicht aufhalten. Deshalb galt es, Vorkehrungen zu treffen gegen den Triumph des Neuen, vor allem gegen jeden radikalen Wandel. Der Begriff der »wehrhaften Demokratie« ist insofern auch ein Synonym für den Erhalt des Bestehenden, die Unveränderlichkeit der Verhältnisse.

Schon das KPD-Verbot 1956 diente diesem Ziel. Die Gewerkschaften hatten einen sozialpartnerschaftlichen Kurs eingeschlagen, und die SPD hatte 1960 mit ihrem Godesberger Programm den Schwenk zur staatstragenden Partei vollzogen. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte es sich im kleinen Wohlstand eingerichtet und zeigte nun wenig Verständnis für ihren rebellischen Nachwuchs. Die Mehrheit der Medien, angeführt von der Springer-Presse, tat ein Übriges und schuf ein Klima der Diffamierung, Nährboden auch für das Attentat auf Rudi Dutschke. So blieben die 68er ungeachtet ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit weitgehend isoliert; hinzu kam ihre Heterogenität, die Ansatzpunkte für Einflussnahme und Ausdifferenzierung bot.

Der Ausgang ist bekannt und wird heute teils mit resignierender Bitternis, teils mit schadenfroher Häme betrachtet. Zu einer Revolution war es nicht gekommen. Und jene, die an diesem Traum bis zum bitteren Ende festhielten, beschritten den Irrweg in den Untergrund und in den individuellen Terror der RAF. Andere erkannten, dass ein gewaltsamer Umsturz der bestehenden Ordnung unmöglich war; sie wählten den »Marsch durch die Institutionen«, wurden Außenminister wie Joschka Fischer, auch ein Bundeskanzler wie Gerhard Schröder gehörte zu dieser Generation, ohne freilich in den 1960er-Jahren besonders hervorgetreten zu sein.

Kein Zweifel aber besteht daran, dass die Bewegung der 68er das gesellschaftliche Klima im Land verändert hat. In Deutschland sei »die Kultur des Gehorsams beseitigt« worden, konstatierte Peter Schneider, und vielen genügte es, dass hierarchische Strukturen aufgebrochen, das Geschlechterverhältnis hinterfragt, die offene Debatte gefördert wurde. Andere 68er wie Hilde Schramm, später führend in der Westberliner Alternativen Liste, sind selbstkritischer. Sie konstatierte im Deutschlandfunk nüchtern, »dass ganz viel in der Gesellschaft, bei uns und vor allen Dingen auf der ganzen Erde so falsch läuft, dass ich eingestehen muss, dass wir nicht viel erreicht haben«.

Tatsächlich gibt es in der Gesellschaft erneut ein großes Unbehagen, ein »unfrohes Klima, das wie eine Glasglocke über allem liegt«. Viele suchen wieder nach einer Alternative, nach einer Perspektive jenseits des Bestehenden. Doch anders als 1968 fehlt ihnen jede Wegweisung dorthin. Vor 50 Jahren studierten sie Marx und Mao, suchten dort nach einer neuen Wirtschaftstheorie, demonstrierten unter roten Fahnen und skandierten auf den Straßen »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh«. Diese Hoffnung, auch wenn sie sich als Illusion erwies, trieb sie damals an.

Heute mangelt es an solcher Zuversicht. Die Gegenwart wird als alternativlos dargestellt und damit Veränderung, letztlich gar Zukunft ausgeschlossen. »Der Mensch hofft immer Verbesserung«, wusste schon Schiller; diese Hoffnung aber zerstört eine Politik, die aufgehört hat, in Alternativen zu denken. Und sie befördert das Misstrauen in diese Politik, die Abkehr von den Institutionen, den Rückzug aus einer lebendigen Gesellschaft. Dass ein Phänomen, gern euphemistisch als »Populismus« bezeichnet und doch nichts anderes als autoritäre Reaktion, sich inzwischen überall in Europa, mit Trump in einer spezifischen Form auch in den USA ausbreiten kann, ist die Antwort auf die aktuelle Perspektivlosigkeit der Menschen. Wer die Hoffnungslosigkeit am skrupellosesten bedient, ist erfolgreich, und sei es aus Verzweiflung.

1989 war das ganz anders. In der DDR hatte man die Alternative vor der Haustür. Es gab die Hoffnung auf ein anderes Leben, die zunächst viele durch Flucht zu verwirklichen suchten, dann aber noch mehr durch den Aufstand gegen das unveränderlich Scheinende. Weil man wusste, dass es einen Ausweg gibt, hatte man ein Ziel. Auch dieses erwies sich freilich oft als Illusion, doch änderte das nichts an der Aufbruchsstimmung, die das Überlebte hinwegfegte. Die Menschen mussten dann aber erleben, dass man - wie es Wolf Biermann schon ein Dutzend Jahre früher messerscharf erkannt hatte - »vom Regen in die Jauche gekommen« war. Das Beharrungsvermögen des Westens kassierte selbst das, was im Osten bewahrenswert war, und proklamierte schon bald die Alternativlosigkeit des Bestehenden - auch dort, wo es sich längst als Hemmnis erwies.

Für die alte Bundesrepublik war die Vereinigung vor allem ein technischer Vorgang, eben eine Transformation des Ostens. Die Menschen hatten sich den neuen Realitäten anzupassen. Was ihnen wichtig gewesen war, verlor an Bedeutung und umgekehrt, aber ihre eigene Situation änderte sich nicht wesentlich. Wieder sind sie eingezwängt in ein System, das sich als unabänderlich empfindet. Und mehr noch: Viele sehen weder hierzulande noch weltweit eine echte Alternative, der zuzustreben sich lohnt. Der Kapitalismus betrachtet sich als Ende der Geschichte; das zerstört jede Hoffnung auf Veränderung. Es gibt keinen Ausweg, nirgends.

Unbehagen, Frust und Widerstand haben sich vor allem in Ostdeutschland ausgebreitet, weil hier die Enttäuschung über diese Entwicklung besonders groß ist. Hier war eine Fortschrittsverheißung verkündet worden, die in der politischen Praxis der DDR keinerlei Entsprechung fand, nun aber auch in der Bundesrepublik vermisst wird. Seit Jahrzehnten laboriert das Land an immer den gleichen Gebrechen - der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, der Zerstörung der Umwelt, der Reduzierung staatlicher Leistungen für die Allgemeinheit, dem Mangel an sozialer Gerechtigkeit. Änderung ist nicht in Sicht, stattdessen weiterer Rückschritt. Altersarmut, Kinderarmut sind längst akzeptierte Gegebenheiten, immer wieder setzt sich Ökonomie gegen Ökologie durch, die »schwarze Null« ist wichtiger als Daseinsvorsorge, schwer erkämpfte soziale Errungenschaften werden als Privilegien diffamiert und rückgängig gemacht.

Weil nirgends zu sehen ist, dass diese Probleme gelöst werden, dass es vorangeht, klammern sich viele an das, was sie haben, um dessen nicht auch noch verlustig zu gehen. Das fängt im Kleinen, im Privaten an und weitet sich aus auf die Fetischisierung der Nation, der Herkunft, des Blutes. Wenigstens das will man sich nicht nehmen lassen. Reaktion pur, was schon einmal ins Verderben geführt hat.

Dennoch sieht der Staat wenig Grund zu Besorgnis, denn ungeachtet aller Merkel-muss-weg-Rufe ist das kapitalistische System durch rechtes Gedankengut und rechtsextreme Politik nicht in Gefahr. Das hat der Nationalsozialismus gezeigt und zeigen jetzt all die rechten Strömungen und Parteien, die in Europa entstanden sind. Keine will das System ändern, im Gegenteil. Gerade in ihrer Programmatik hat die Erhaltung des Bestehenden, teilweise gar die Rückkehr in die Vergangenheit, Priorität.

Konservative Parteien knüpfen nahtlos daran an. Das lassen sowohl konzeptionelle Entwürfe wie der Ruf des CSU-Politikers Alexander Dobrindt nach einer »konservativen Revolution« als auch praktische Vorkehrungen im Polizeirecht, die vor allem unionsregierte Länder wie Bayern und Nordrhein-Westfalen getroffen haben, erkennen. Ausdrücklich wirft Dobrindt den 68ern die »geistige Verlängerung des Sozialismus« vor, diese »linke Meinungsvorherrschaft« müsse überwunden werden - ein unverblümtes Angebot an Rechtsaußen. Viele Führungsleute der AfD kommen schon jetzt aus der Union, und die Partei hat nicht nur heimliche Sympathisanten in den Reihen von CDU und CSU. Noch dominiert die Konkurrenz zwischen ihnen, doch bei Notwendigkeit würde wohl auch ein Bündnis nicht ausgeschlossen.

Rechte Kräfte in Regierung wie Opposition verorten den Hauptgegner unverändert auf der Linken im weitesten Sinne. Das relativiert den Fortschritt, den sich die 68er zu Recht zugute halten. Er ist 50 Jahre später nicht mehr gesichert - auch weil die Linke noch kein Mittel gegen den neuen Rechtskurs gefunden hat.

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